Wer ist ein Verräter? Einer, der ihm anvertraute Geheimnisse weitererzählt. Habe ich leider getan. Vor vielen Jahren. Man lernt im Leben immer dazu. Doch einiges ist nicht mehr gutzumachen. Du kannst dich entschuldigen, trotzdem musst du manchmal bis zu deinem Tod büßen. Es ist möglich, dass manche Menschen nie wieder etwas mit dir zu tun haben wollen. Da musst du durch. Auch, wenn es dir leidtut.
Mir geht es heute Abend okay. Bin etwas kaputt. Ich warte auf Worte – sie wollen nicht kommen. Mir ist danach, mich zurückzuziehen und für mich allein zu sein. Habe keine Lust zu telefonieren. Schwierige Themen sind mir zu schwer. Manchmal reicht auch ein Blabla. So fühle ich mich gerade – blabla. Blabla im Havana wäre allerdings auch ganz nett. Der Weg ist zu weit. Draußen stürmt es. Morgen fällt die Schule wegen des Orkans aus. Ich bin melancholisch. Hätte Lust zu lesen, aber weiß, dass ich über fünf Seiten nicht hinauskommen würde. Gestern ist mir eine neue Kurzgeschichte gelungen. Ich stütze meinen Kopf ab. Überlege. Bin nicht im Flow. Langweiliges Geplänkel. Der Wein hilft auch nicht. In meinem Zimmer ist es stickig und warm. Und eng. Habe soeben das Fenster geöffnet und höre dem Wind zu. Dem Wind und den Regentropfen. Die frische Luft tut gut. Sie belebt mich ein wenig. — Morgen habe ich einen Termin bei meinem Psychiater. Eventuell werde ich ein Medikament um 2,5 mg reduzieren. Mein Psychiater möchte keinesfalls, dass meine Fantasie eingeschränkt ist. Ist sie aber, verdammt. Ich weiß, dass mich 10 mg Aripiprazol gegen die Psychose schützen. Ich weiß, dass 5 mg nicht ausreichen. Blieben also 7,5 mg. Mein Antrieb ist in Ordnung, bei nur 5 mg komme ich nicht in Schwung. Und meine Fantasie büßt trotzdem ein. In meiner Selbsthilfegruppe haben einige auch das Problem, dass sie nicht lesen können. Und das, obwohl sie früher sehr viel gelesen haben. Es gelingt ihnen genauso wenig, sich in einen Roman hineinzusteigern. Wahrscheinlich ist mein Anspruch zu hoch. Schließlich möchte ich funktionieren. Kleine Dinge verrichten können. Glücklich macht mich das Leben so aber nicht. Nicht einmal zufrieden. Natürlich möchte ich auch nicht manisch werden. Höchstens wieder ein wenig hypo. Ich wünsche mir, dass es aus mir heraussprudelt, dass meine Finger meinen Gedanken kaum folgen können. Ich möchte nicht jeden Tag um die Worte kämpfen müssen. Das ist mir alles zu realistisch. Zu normal. Aber es ist ja gar nicht normal. Denn normalerweise habe ich durchaus sehr viele fantastische Gedanken. Wäre ich derzeit auf einer Lesereise, wären 10 mg genau richtig. Ich schlafe gut, kriege so ziemlich alles auf die Reihe, bin ziemlich belastbar usw.. Heute Abend fühle ich mich sonderbar melancholisch. Ja, traurig. Aber es ist okay. Einfach okay so. Ich fühle die volle Liebe zu meinem Sohn. Vorhin bin ich neben ihm eingeschlafen. Warum reicht mir das nicht? Ich schaffe den Haushalt, schaffe meinen Job, arbeite im Garten – „nur“ das Schreiben fällt mir so verdammt schwer. Und doch bereiten mir diese wenigen Zeilen, die ihr gerade lest, große Freude. Ich bin für jeden Satz dankbar. Am Anfang habe ich gedacht, ich kriege heute keine zwei Reihen hin. Es ist jetzt 23.00 Uhr, und es regnet in Strömen. Dicke Regentropfen prasseln gegen die Scheibe und auf die Fensterbank. Komm, noch ein Gläschen. Um 23.30 Uhr werde ich runtergehen. Ich werde versuchen, eines meiner angefangenen Bücher weiterzulesen. Vielleicht gelingen mir ja zehn Minuten einzutauchen.
Herzliche Grüße und eine gute Nacht
Henning