Lieber Freund!

Eine halbe Stunde habe ich Zeit. Ich möchte sie nutzen. Wäre ich nicht so antriebslos, würde ich eine alte Kurzgeschichte rausputzen. Ihr neue Farbe einverleiben. Sie lebendiger machen. Ich bin einfach zu faul.

Es regnet. Der Wind hat nachgelassen. Der Himmel – grau. Ich kann nicht sagen, dass es in meinem Kopf genauso grau ist. Nicht trübe und nicht trist. Meine Stimmung steht auf einer Skala zwischen 1 und 10 auf 4 bis 5. Mein Psychiater ist (für die Umstände) zufrieden. Mein Therapeut ebenso. Für mich ist es geradeso okay. Ich kann in dieser Zwischenzone leben. Nur noch ein wenig mehr Antrieb wäre schön. Klar, ich könnte jetzt die Küche putzen, oder den Hauswirtschaftsraum aufräumen. Und wahrscheinlich werde ich dies auch gleich tun. Aber auch nur, weil ich faul bin. Oder anders: Weil ich gerade nicht kreativ sein kann. Es ist noch zu früh, um ein Glas Wein zu trinken, zudem muss ich noch Auto fahren. Ich könnte Cupi anrufen – doch für ein längeres Gespräch ist mir gerade meine freie Zeit zu kostbar. Es ist 17.00 Uhr. Um 17.15 Uhr muss ich mit meinem Sohn etwas für die Schule tun. Jetzt sitze ich hier in meinem Zimmer am Schreibtisch und warte wieder, dass schwarze Worte auf dem grauen Monitor erscheinen. Meine Worte. Worte, die dich interessieren könnten. Vielleicht ein paar Worte, die dir Mut machen.

Lieber Freund!

Du bist gerade deprimiert. Du bist in eine schwerwiegende depressive Phase geraten. Du wartest auf einen freien Platz in der Psychiatrie – dort sagte man dir, frühestens in 4 bis 6 Wochen könnest du aufgenommen werden. Du wälzt dich im Bett von einer Seite auf die andere, weißt nichts, aber auch gar nichts mit dir anzufangen. Noch antriebsloser als du kann man kaum sein. Du kannst dich drauf verlassen – die Zeit wird wieder besser. Dir wird es schon bald gutgehen. Du kennst diesen Zustand schon seit ein paar Jahren. Und doch ist er immer wieder wie neu. Wie zum ersten Mal. Gerade noch vor einigen Wochen bist du manisch gewesen, es schien, als könne dir niemand etwas anhaben. Es war, als läge dir die ganze Welt zu Füßen. Du standst über den Dingen – so jedenfalls war dein Eindruck. Und vor ein paar Wochen hat es dich voll erwischt. Die Depression knallte wie ein Hammerschlag in deinen Schädel. Ganz dumpf fühlst du dich nun. Zum Haare raufen. Du fühlst dich leer und schwach. Du willst die alte Zeit zurück. Die Zeit vor deiner Erkrankung, vor deiner Erkrankung, die dir soviel zerstört hat. Mach dich nicht für deine Misere verantwortlich. Bipolarität ist ungeheuer tückisch. Vor allem, wenn sich die Stimmung mehrmals am Tag wandelt. Die Spannungen, die in einer solchen Phase vorherrschen, sind kaum auszuhalten. Mehrere Wochen Manien können wundervoll sein. Mehrere Wochen, gar Monate Depressionen, bedeuten die Hölle auf Erden. Die Sonne scheint nicht mehr zu existieren. Der Herrgott hat den Lichtschalter betätigt. Früher oder später, dessen sei dir ganz sicher, brennt das Licht wieder. Du schaffst das. Ihr zusammen schafft das. Nur auf der Überholspur kann man nicht fahren. Ab und zu zumindest muss man einscheren. Gar abbremsen. Entspannen. Im langsamen Tempo mitfahren. Und an einer roten Ampel hältst du an. Und auf einem Parkplatz verlässt du den Wagen und gehst ein paar Schritte. Du machst dir Gedanken. Für mich bedeutet die Klinik: Flughafen. Hier kannst du zur Landung ansetzen. Und wenn du schon gelandet bist, kann sie ebenso die Startbahn sein. Vieles ist neu zu erlernen. Meistens sind es die Kleinigkeiten, die in einer „guten“ Phase so leicht von der Hand gehen, die wir aber als völlig überflüssig betrachten. Nimm dir eine Auszeit, mein Freund. Komm vorbei, wann immer du willst. Du weißt, unsere Herzen schlagen im Einklang. Ich hole dich auch ab. Egal in welchem Zustand du dich gerade befindest – dein Zimmer ist immer für dich frei. Das Bett frisch bezogen. Hab keine Scheu!

In ewiger Verbundenheit, dein Freund

Henning

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