Allgegenwertig

Ich genieße gerade die Stille. Ich habe Zeit. Es ist Viertel vor zehn. Meine Hände schreiben genau das, was ich will. Es sind meine Gedanken. Das scheint nicht immer so zu sein. Bin ich manisch, scheint es, als führe ich nur aus. Dann bin ich ein Untertan. Es ist, als würdest du beim Gehen von hinten angeschoben. Es ist, als habest du Rückenwind. Dir gelingt es kaum noch stehenzubleiben und innezuhalten. Doch diese Gedanken hier, die gehören mir. Ich teile sie mit euch. Ich teile sie euch mit. Ich weiß nicht, ob ihr mit ihnen etwas anzufangen wisst. Ihr denkt vielleicht den einen oder anderen Gedanken weiter. Oder ihr denkt ihn ganz anders. Oder ihr überdenkt ihn. Oder verwerft ihn sofort wieder. In unseren Gedanken sollten wir frei sein. Tiefe Geheimnisse schlummern in uns. Wir können in diesem Land, wenn wir denn wollen, unsere Gedanken weiterreichen. Sie öffentlich machen. Man sollte nur niemanden beleidigen oder gar verletzen. Wie viele Menschen habe ich schon verletzt!

In meiner kleinen Welt ist es einigermaßen in Ordnung. Die große Welt, die Welt da draußen, scheint aus den Fugen zu geraten. Ein gefährliches „Spiel“. Es könnte einen Weltkrieg geben. Davon können wir derzeit ausgehen. Bis jetzt hatten wir Glück. Das Glück könnte zu Ende gehen. Was mir bleibt, ist das Schreiben. Vielleicht so lange ich lebe. Kurze Texte sind angesagt. Kein Roman über mehrere hundert Seiten. Jedenfalls nicht jetzt. — Für meine Gedichte habe ich noch keinen Verlag gefunden. Und wahrscheinlich wird es auch so bleiben. Wie geht es weiter? Machen alle so weiter wie bisher, ich meine hier, in Deutschland? Was bleibt uns übrig? Jeder kocht sein eigenes Süppchen. Jeder lebt in seinem eigenen kleinen Kreis.

Deine Gedichte. Deine Geschichte. Ein Klumpen im Bauch. Die Gedanken machen dich schwer. Du guckst so durch dein Zimmer und fragst dich, was wirklich wichtig ist. Du fragst dich, ob du dich bereits verabschieden sollst. Du weißt, dein Ziel, das hast du nicht erreicht. Du magst diesen Spruch nicht: „Der Weg ist das Ziel“. Dein Traum ist kaum noch zu erfüllen. Der Krieg hat begonnen. Keiner weiß, ob es der letzte ist. Du ahnst aber, wenn es einen Weltkrieg gibt, ist er das. Du hast gekämpft. Du hast geschrieben, glaubtest sogar, das Weltfriedensbuch. Den dritten Teil der Bibel. Du weißt, du hast versagt. Du glaubst an ein Paradies. Du glaubst an die Hölle. Und nun, gerade jetzt, fällt dir das Schreiben so unglaublich schwer. Deinen Glauben an Gott hast du nicht verloren. Deinen Glauben, ein berühmter Dichter zu werden, schon irgendwie. Weil es so verdammt spät ist. Es geht dir nicht um deinen persönlichen Ruhm. Es geht dir aber um deine Bücher, um deine Geschichte und Geschichten, und vor allem um deine Gedichte. Du sagst, sie sind eben ehrlich. Sie sind eben einfach ehrlich. Würden alle Menschen an deine Gedichte glauben, hätten wir unseren Weltfrieden. Ob das größenwahnsinnig klingt oder nicht, ist dir schnuppe. Du erinnerst dich daran, wie du während des Niederschreibens der vielen Verse gelitten hast. Wie du geweint und geschluchzt hast, wie verzweifelt du gewesen bist. Ja, du warst verrückt. Krankhaft verrückt. Und jetzt, vor ein paar Tagen, hast du genau diese Gedichte alle noch einmal gelesen. Du kannst einfach nicht verstehen, dass sie niemand veröffentlichen will. Was du noch glaubst, ist, dass sie noch immer einschlagen könnten wie eine Granate ins Planschbecken. Woran du nicht mehr glaubst, ist, einen Verleger zu finden. Jemand, der sagt: Hey, genau das ist es, was wir gerade brauchen. Nichts anderes. Nur diese Texte. Und zwar schnell. Du glaubst an das Paradies, weil du dort gewesen bist. Du standest vor dem Eingang. Du durftest hineinblicken in jene Farbenpracht der vollen Blüten. Mit dem Fahrstuhl bist du hinauf gefahren. Du glaubst an die Hölle. Weil du sie beileibe erfahren musstest. Keiner kann dir weismachen, dass es die Hölle nicht gibt. Du weißt es besser. Und du glaubst ganz fest, nein, du weißt es – gerade zu dieser Zeit bist du nicht psychotisch. So oft bist du psychisch instabil gewesen. So viele Monate hast du in Kliniken verbracht. Doch dein Spruch ist stets derselbe geblieben: Nur ein Verrückter kann die Welt verrücken! Anders ist es nicht mehr möglich. Du hoffst. Du glaubst. Du weißt. Würden alle Menschen die gleichen Gebete sprechen, hätten wir Frieden auf der Welt. Würden alle wissen, dass es das Paradies und die Hölle gibt, hätten wir Frieden auf der Welt. Keiner mehr würde es wagen, auch nur einen einzigen Schuss abzufeuern. Alle Krieger und Soldaten würden ihre Waffen niederlegen. Selbst die mächtigsten Männer, die ja sowieso glauben, sich nicht die Hände selbst schmutzig zu machen, würden zum Frieden aufrufen. Du sitzt in deinem Zimmer, bist müde, dachtest, du kannst heut kein Wort mehr schreiben. Trinkst ein Bier. Dir ist warm. Du schreibst dich nicht einmal in Rage, wie sonst so oft. Du fühlst dich völlig auf dem Teppich. Warum findest du keinen Verleger? Aus Angst? Denken sie, mit dir kann man nicht zusammenarbeiten? Du bist ratlos. Guckst dich wieder um und fragst dich, was dir hier drinnen wirklich wichtig ist. Es sind nur deine eigenen Bücher. Die Bücher, die du so gern deinem Sohn vermachen möchtest. Auf alles andere kann ich verzichten, sagst du dir. Du lebst so gerne, so unheimlich gerne. Und nun bist du schon soweit, dass du dich fragst, ob du dich bald verabschieden musst. Ich sage dir: Leb in deiner kleinen heilen Welt so lange weiter, wie du kannst. Mach das Beste draus. Gib dir riesige Mühe. Meide es, dich zu streiten. Mach deine Frau glücklich. Sei für deinen Sohn da. Besuch deine Mutter und deine Schwester. Triff dich mit deinen guten Kumpels und Freunden. Du kannst das Absurde nicht mehr aus dem Blick verlieren. Es ist allgegenwertig.

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