Ich brauche meine Tagträume

Wunderbare Frühlingstage vor dem Frühling! — Ich bräuchte den Winter nicht, würde sehr gut in Gefilden leben können, wo jeden Tag die Sonne scheint, wo über 20 Grad sind. Hätte ich nichts gegen. Natürlich komme ich auch mit dem Winter klar, aber wenn schon Winter, dann wünsche ich mir auch Eis und Schnee. Das Wetter spielt verrückt.

Die Wanduhr von 1910 tickt, das Radio spielt Jazz, ab 22 Uhr NDR Info, jeden Abend. Manchmal hartes Zeug, jetzt gerade entspanntes. — Jean und ich bereiten gerade unsere Lesung vor, Inhalt, Ablauf, der Anfang ist gemacht. Ich muss das Radio jetzt ausmachen, die Mucke macht mich wahnsinnig. Ich bin eher beim Schreiben so der stille Typ, das Ticken der Uhr reicht. Das leichte Flackern der Kerzenflamme bringt genug Bewegung hier ins Zimmer, Schwingungen, die aus den Lautsprechern kommen, stören mich. Der Whisky mundet, es ist halb elf am Abend, morgen habe ich frei. Das heißt, ich fahre ins Eck und arbeite dort an „weg“, womit ich in den nächsten Tagen fertig werde. Jean kotzt schon, er braucht von mir ne Pause. Wenn ich ihm sage, dass er in drei Wochen „Psychotische Attacken“ und dann die ganzen Gedicht kriegen kann, kriegt er nen Herzanfall oder so was. Es wäre alles viel leichter mit den Seiten setzen, wenn ich einen Mac hätte. Hat wer einen rumfliegen, am besten neu? Kostet doch nur 2000. Oder liege ich da falsch? Ist auch gerade nicht wichtig. Was ist eigentlich wichtig? Manchmal nicht viel, jedenfalls dann nicht, wenn man was getrunken hat. Dann ist es oft leichter. Aber die Erde kann man bedröhnt nicht besser machen. Da ist klare Strategie gefragt. Klar kann ich mir die Birne zukiffen und denken, mein Gott, was bin ich für ein friedlicher Mensch! Würden doch nur alle kiffen. Tun sie aber nicht. Vielen Menschen würde es gut tun, wenn sie dauerbreit wären. Auf jeden Fall macht Kiffen nicht aggressiv, wie bei etlichen Menschen der Alkohol. Die meisten brauchen aber nicht mal den. Die sind auch nüchtern völlig durchgeschallert, sieht man ja jeden Tag im Straßenverkehr. Oder man sieht sie auf RTL 2. Egal. Ich finde es nur so schade, dass wir fast alle die Augen zumachen und nur an uns denken. An unser schönes Leben. Gucken uns schöne Sendungen und Filme und Serien an, essen und trinken gut, ermöglichen unseren Kindern nur das Beste. Sportverein, Musikunterricht, massenhaft Spielzeug usw. Heile Welt. Subtil dringt ab und zu was von der Schlechtigkeit, von der Armut, von Krieg durch. Aber nur am Rande. Wir wollen, dass es unseren Kindern so gut wie möglich geht. Wir wollen sie fernhalten von den ganzen Katastrophen. Aber sie werden älter, sie kriegen Durchblick, raffen Zusammenhänge – und zack – sind sie zwanzig und zeigen uns n Vogel, weil wir ihre Welt zerstört haben. Ganz bewusst. Und dann gibt es immer noch hirnamputierte Ochsen, die sich über Arbeitsplätze Sorgen machen, dabei gibt es wahrscheinlich schon in 80 Jahren kein sauberes Wasser mehr. Fahrverbot – was regen sich da die Leute drüber auf. Sie raffen es einfach nicht. Es ist zu spät, Leute. Vielleicht können wir es um ein paar Jahre rauszögern, aber ehrlich, der Planet ist hinüber. Ihr wollt es nur nicht wahrhaben. Ihr wollt blind und taub bleiben, Augen und Ohren zulassen. Und dann ist ein Herbert Grönemeyer in einer Talkshow und ist total positiv eingestellt, sagt, wir sind aufgeklärt, wir kriegen das alles hin. Er ist über sechzig, in zwanzig Jahren ist er tot, er hat seine beste Zeit gehabt. Ich könnte auch den ganzen Tag Lieder pfeifen, albern sein usw. Bin ich ja. Wirklich, ich bin ein alberner Typ, gehe meiner Frau oft voll auf die Nüsse mit meiner guten Laune schon morgens um sechs, aber das ist nicht die wahre Welt. Die wahre Welt ist da draußen, in den Flüchtlingsheimen, in den Kriegsgebieten, in den ärmsten Ländern der Welt. Ein Grönemeyer hat zig Millionen auf dem Konto, er braucht sich um sich keine Sorgen mehr zu machen, solange er gesund ist. Ich finde das zu einfach. Klar, eine Talkshow ist eine Unterhaltungssendung, ich weiß. Was Wichtiges hat er aber nur am Rande gesagt, und er hatte zwanzig Minuten Zeit. Ich könnte mich voll aufregen. Ich finde, wenn man prominent ist und was zu sagen hat, soll man die Gelegenheit am Schopf packen, vor allem, wenn ein paar Millionen Menschen zusehen und zuhören. Man hat das Recht dazu, scheiß auf die Gute-Laune-Sendung. Sagt einfach die Wahrheit, mehr ist es doch gar nicht. Es dreht sich nicht mehr um den Einzelnen, es sollte nicht mehr interessieren, wie jemand irgendwann irgendwo aufgewachsen ist und wie er es zum Künstler oder zum Bankchef geschafft hat. Es hat zu interessieren, was man für die Zukunft der Welt tun kann. Die ganze Welt braucht dringend Hilfe. Unsere Hilfe. Es ist nicht mehr wichtig, was für Spielfilme gedreht werden, wer einen Oskar gewinnt und sich feiern lässt. Darum darf es nicht mehr gehen. Und wenn doch, hat der Künstler die Plattform zu nutzen, man kann drauf scheißen, einem Produzenten, einem Regisseur oder dem ganzen Team zu danken. Die zwei Minuten, die man hat, sollte man nutzen, um eine große Botschaft in die Welt zu senden. Alle, alle, alle Menschen müssen aufwachen. Klar mach ich auf der Lesung am 16.3. ne Show, klar will ich die Leute unterhalten, aber jeder, der meine Texte kennt, weiß, dass da ne Menge Ernsthaftigkeit hintersteckt. Es wird eine gesunde Mischung geben. Es geht nicht um den einen oder anderen Text, es geht um die Gesamtheit. Ist auch egal jetzt, ich muss schlafen, will morgen fit für den Tag sein.

Gute Nacht   !

Da bin ich schon wieder. Sitze im Eck und hab ne fette Cigar am Start. Hab gestern noch mit Jean telefoniert – er braucht tatsächlich ne Pause von meinen Büchern. Also habe ich mich soeben entschieden, am neuen Roman weiterzuarbeiten. Den Titel würde ich gern schon verraten, mache ich aber noch nicht. Ich bin auch am Überlegen, ob ich das Buch unter einem Pseudonym rausbringe, aber zu gern steh ich auch zu meiner Schreibe. Meiner Frau geht es natürlich um die Sicherheit unserer Familie. Aber diese ganzen Nazipisser gehen mir gehörig auf die Eier. Ehrlich. Und wenn ich „Die Letzte Version vom Paradies“ veröffentliche, kommt keine Religion gut weg bei. Weder das Christentum, noch der Islam, das Judentum, der Buddhismus, die Hindus … Ich muss schauen, wie ichs mache. Auf jeden Fall muss das Zeug raus in die weite Welt, das ist mein Anspruch. Ich könnte die Texte selbst zensieren, aber damit zerstöre ich eine Menge wahnsinnige Wahrheit. Damals habe ich die Gedichte genau so empfangen, ich war krankhaft verrückt – und doch – was steht, steht. Was wahr ist, ist wahr.

In zweieinhalb Monaten werde ich 50, von da an wollte ich ja meine Familie ernähren können – klappt anscheinend nicht. Ich muss es akzeptieren. Bleibt mir ja nichts anderes übrig. Was soll ich machen? Aber wenn man etwas akzeptiert, gehts einem besser, wenn man sich mit etwas abfindet, auch wenn man Jahrelang drauf hin gearbeitet hat, und es klappt trotzdem nicht, darf man nicht den Kopf in den Sand stecken. Man muss weitermachen, sich neue Ziele stecken, auf dem Weg ist man ja sowieso. Die Hoffnung stirbt zuletzt, ist wirklich so. Manch einer spielt noch im Totenbett Lotto. Er braucht das. Genau so brauche ich meine Tagträume. Ich gebe nicht auf, halte an ihnen fest, ich tu ja keinem damit weh.

Also liebe Leser. dann lasst mich jetzt mal arbeiten, ich freue mich auf den nächsten Beitrag   !

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