HA – ich lebe noch!!!

Es stürmt und regnet, um 21.30 Uhr. Wie heute den ganzen Tag. Ich möchte unbedingt noch einmal herkommen, nur um zu schreiben. Klar, es gibt auch andere Orte, wärmere Orte, mehr Leben, mehr Temprament, heißblütigere Länder, mehr Bars … Aber um zu arbeiten ist das hier schon der richtige Ort. Vor allem auch dieses wunderschöne Haus, die Terrasse, der Garten, nicht weit entfernt vom Atlantic. Zwei Minuten mit dem Auto, zehn Minuten zu Fuß. Morgens kann man sich am Hafen frischen Fisch holen, zehn Minuten Autofhart der nächste Zigarrenladen, und diese wundervolle Ruhe. Es kommt drauf an, was man will. Will man etwas erleben, fliegt man nach New York, nach London, nach Paris, nach Berlin, nach Hamburg, sonst wohin, will man Sonne, gehts ab nach Kuba. Ja, ich könnte mir auch vorstellen, in der Karibik zu schreiben. Aber hier an diesem Flecken Erde fühle ich mich sicher, ich fühle, dass ich hier etwas schaffen könnte, etwas Großes. Zeit, man braucht die Zeit, und klar, da sind wir wieder beim alten Thema, Geld auch. Kommt man nicht drum rum, man muss sich was zu essen, zu rauchen, zu trinken kaufen können, man braucht einen Wagen und Benzin. Das war es dann auch schon. Und natürlich die Unterkunft, ohne ein Dach über dem Kopf geht gar nichts. — Mein Sohn hat Heimweh, er vermisst seine Freunde, seine Erzieherinnen, seinen Kindergarten, sein Kinderzimmer. Ich habe ihm heute erklärt, dass man dieses Gefühl Heimweh nennt und es einen traurig macht. Ich habe kein Heimweh, ich würde das Leben hier noch einige Wochen genießen können, das heißt nicht, dass ich mich nicht auf zu Hause freue. Zu Hause liegt viel an, es gibt ja immer was zu tun. Heute kam mir die Idee, mir einen Monat lang die BILD zu kaufen, um Themen für den Blog zu finden, um mich aufzuregen, um mich inspirieren zu lassen. Klar, ich könnte auch die HAZ lesen, oder die ZEIT, oder eine andere anspruchsvolle Zeitung, aber gerade die BILD haut richtig ins Gehirn, deswegen lesen sie auch 12.000.000 Menschen täglich. Vielleicht werde ich sie als kreative Arbeitsbeschaffungsmaßnahme verwenden, mal sehen. Sonntag sind bei euch erst einmal die Wahlen, ich hoffe, dass sich einiges ändert, ich habe die zwei Kreuze per Briefwahl gesetzt. — Ich bin heut etwas schlapp, mir fällt nichts weiter ein, nichts kickt mich. Ich habe aber auch keine Lust zu lesen oder etwas zu spielen, auch möchte ich noch nicht ins Bett gehen, keine Musik hören, nicht fern sehen. Zwischen diesen Zeilen spreche ich mit meiner lieben Frau, die neben mir sitzt. Dabei fällt mir auf, dass ich gar nicht so weit weg muss, nicht bis nach Amerika, um ein gutes Buch schreiben zu können. Da sind wir wieder bei Sylt oder einer anderen deutschen Insel, wo es auch magische Plätze gibt, wo ich, wenn ich Heimweh kriege, kurz mal nach Hause fahren könnte. Aber ich weiß, dass ich an einem sehr stillen Ort und am besten am Meer anders arbeiten kann, als in meinem gewohnten Umfeld. Ich würde ja nur zum Arbeiten hinfahren, nichts lenkt einen ab, man weiß, wofür man diese Zeit auf sich nimmt. Die Zeit regelt sich von allein, ein ganz neuer Rhythmus findet sich, alles pendelt sich ein, alles, um die großen Stunden des Schaffens zu finden und zu nutzen. Ja, ein Ort in der Nähe meines Zuhauses gefällt mir besser, wenn ich näher darüber nachdenke. Zwei, drei, vier Stunden Autofahrt wären aber wichtig, damit man nicht zu oft in Versuchnung gerät, „kurz mal“ eine Ausszeit zu nehmen. Gebt mir einmal im Jahr drei bis sechs Monate und ich schreibe jedes Jahr ein Buch fertig. Jetzt brauche ich ungefähr zwei Jahre. Ich will arbeiten, arbeiten, arbeiten, jede Stunde, die ich nicht schlafe oder genieße, nutzen. Schreiben ist natürlich der größte Genuss, der größte Luxus, den man sich leisten kann. Soll nicht heißen, dass ich die vielen Stunden mit meiner Familie weniger genieße, wenn ich mit Sohn und Frau zusammen bin, bin ich voll für sie da, meistens jedenfalls, oft habe ich ja auch noch das Buch im Kopf, an dem ich gerade sitze, dann schweifen die Gedanken ab und lassen mich in der Geschichte zurück. Als ich „Im Wahn der Zeichen“ zum letzten Mal geschrieben habe, war ich nicht ansprechbar für meine Frau, Tag und Nacht habe ich mich mit dem Buch auseinandergesetzt. So ist es zum Glück heut nicht mehr, ich lasse mich ganz gern ablenken. Ihr sagt, ich nehm das alles zu ernst, ich bin ja doch nur Hobbyautor und kein Berufsschriftsteller und lange nicht gut genug für den Durchbruch. Für meine Frau bin ich ein Träumer, was ich ihr nicht einmal zum Vorwurf machen kann. Für meine Mutter bin ich ein Spinner, für meine Freunde sonst was. Aber ehrlich gesagt sind viele Leute, die ich kenne, jetzt schon halbtot, jedenfalls total in ihrer Freiheit beschnitten. Sie denken klein, glauben nicht an das große Ding, haben einfach keine Idee, wie sie es erreichen könnten, setzen höchstens auf Lotto, wenn überhaupt. Aus eigener Kraft schaffen es nur die wenigsten Herr über das eigene Leben zu sein. Es gibt Chefs, Vorgesetzte, Sklaventreiber, Leihfirmen, alles Mögliche, was einen benutzt und ausnutzt, die Menschlichkeit spielt keine Rolle. Maschinen, die früher als Kind frei denken konnten, und träumen. Alles im Arsch, alles im Klo runtergespült. Pech gehabt. Glück, wenn du es irgendwann merkst und was änderst. Aber das Grauenvolle ist, dass die meisten Menschen Angst vor Veränderungen haben. Sollen sie tot bleiben, ist nicht mein Problem, ihres ja anscheinend auch nicht. Ein Flüchtling, der jeden Tag ums Überleben kämpft, lebt immerhin. Mehr als du, du atmende Leiche. Ein Wunder, dass du überhaupt noch atmest und Luft bekommst, dass du dich noch bewegen kannst, obwohl du jeden Abend vier Stunden in die Glotze starrst. Jeden Abend die gleichen Sendungen, jeden Abend der gleiche Ablauf, jeden Morgen auch, Rituale, beschissene Rituale, die eigentlich nur Kinder und Kranke brauchen. In jeder Hinsicht beschnitten, ob du nun noch existierst oder nicht, du hinterlässt ja doch nichts. Jaja, ich hab ne große Schnauze, ich ziehe vom Leder, ich beleidige euch, wenn nicht gerade dich, dann aber die ganzen anderen, die tot sind. Psychotiker in akuten Phasen leben in drei Minuten mehr als manche Menschen in 90 Jahren, kannste drauf wetten. Sie fühlen sich in drei Minuten wie Gott. Ich liebe die Verrückten, die Ausgeklinkten, die Schizophrenen, sie sollen mir aber bloß nicht zu nahe kommen, wenn sie gerade drauf sind. Dann sollen sie lieber stabil in meine Selbsthilfegruppe kommen, um über ihre Erlebnisse unter Gleichgesinnten sprechen zu können. Psychosen ähneln sich ganz oft. Sei doch mal ein bisschen verrückt, nur ein bisschen, brich mal aus und schrei auf der Straße „SCHEISSE!“ Jaja, warum sollte ich das tun, ist jetzt die große Frage. Damit du mal weißt, wie es ist, verdammt noch mal. Damit du hinterher in die nächste Kneipe gehst und ne Flasche Whisky trinkst. Damit du dich am nächsten Morgen richtig beschissen fühlst, dann fühlst du, dass du lebst. Du fühlst es nicht, wenn du acht Stunden am PC oder vor der Glotze hängst, jede Wette. Sitzt der Scheitel auch richtig? Die Bügelfalte? Die Brille spurenfrei? Ist der Wagen gewaschen, der Rasen nazimäßig gemäht? Besser, ich lasse das mit dem Schreiben heute Abend, nein, ich hole mir jetzt noch ne Mischung. Habe mich für Wein entschieden. Prost. Ich bin gerade deprimiert und traurig – mein Sohn hat Heimweh, wir können ihm bei diesem Wetter nicht viel anbieten. Ich hoffe, dass der Sturm und Regen in den nächsten Tagen nachlässt und wir rauskönnen. Er macht das wirklich alles super mit, hört zum hundertsten Mal dieselben CDs, wir können sie mitsprechen, aber er muss an die Luft, er muss raus, auch bei Sturm und Regen. Wir auch. Für morgen lasse ich mir etwas einfallen, ich weiß nur noch nicht was. Doch, wir fahren nach Provincetown, egal, das Wetter kann mich am Arsch lecken! Ich lebe noch! So, und jetzt höre ich auf zu schreiben, lese den ganzen Kram noch mal – und ab geht er  !

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