Die Zeit rennt und rennt

Die Wanduhr tickt. Der Laptop summt. Ansonsten ist es still im Haus. Frau und Sohn schlafen, es ist halb elf, am Freitagabend.

Das Leben kann so schnell vorbei sein. Voll rausgerissen, einen Tag vorher noch lebendig, noch fit, dann ein Sturz, der Schädel bricht, Blutergerguss, schwerbehindert. Alles ganz anders. Jeden kann es erwischen, keiner ist gefeit. Das Leben sollte man genießen, doch man lebt wie ein Arschloch. Nach mir die Sintflut. Ego. Egozentrisch. Es dreht sich alles um das Ich. Vorteilbedacht. Ist ja klar, ist ja so was von klar. Was gehts mich! Augen zu und durch. Was hab ich damit zu tun? Nicht mit mir! Sollen sich die anderen drum kümmern! Verreck dran! Leck mich am Arsch! Ja, leckt mich alle am Arsch! Wir schimmeln vor uns hin. Man stirbt und stirbt, bis man tot ist, so ähnlich sagte es Bukowski. So oder so. Jaja. Morgen werde ich 49. Ich fühle mich nicht so. In anderthalb Stunden habe ich Geburtstag. Ich fühle mich überhaupt nicht so. Ich habe Dieter Falk meine Songtexte angeboten. Musikproduzent. Hat sonst jemand eine Idee? Bekomme ich eine Antwort? Zumindest eine Antwort? Ich rechne nicht mit. Kann man auch nicht. Wie viele Angebote bekommt ein so berühmter Produzent? Ich könnte auch sofort zu etlichen Kompositionen Texte verfassen. Wo soll ich mich hinwenden? Hm. Die Texte verstauben im Rechner. Werden vielleicht niemals gelesen. Schade? Kann ich nicht sagen. Könnte mir aber vielleicht Diester Falk sagen. Vielleicht. Am 3. Mai gehe ich nach zwei Jahren Pause wieder zu meiner Psychologin. Verhaltenstherapie. Sie fehlt mir. Es gibt so viel zu erzählen. Mein Sohn erzählt auch den ganzen Tag, das geht morgens schon los, gleich nachdem er die Augen aufgeschlagen hat. Man kann keinen Menschen mehr lieben, als sein Kind. Ich wünschte, jeder dürfte diese Erfahrung machen. Nicht jedem ist sie vergönnt. So vielen Menschen ist so vieles nicht vergönnt. Eine Wohnung. Eine Heizung. Wasser. Lebensmittel. Geschweige denn der ganze Luxus. Eine Familie. Wie viele Kinder sind allein auf der Flucht! In allen Altersstufen. Mein Sohn ist fünf. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es für ihn ohne uns wäre. Und dann gibt es diese hirnverbrannten Faschos, die nicht vom Dübel bis zur Schraube denken können. Kein Mitgefühl. Kalt. Herzlos. Wie sind deren Eltern? Und Großeltern? Tja … Mein nächster Roman wird krass, der Titel steht schon. Brisant. Für mich auch. Ich wage mich hinein in den Faschisten-Trubel. In die Flüchtlingsszene. Kurzes Ding. 200 Seiten höchstens, die es in sich haben. Aber zurzeit sitze ich an meinen alten Kurzgeschichten. Ich denke, in acht Wochen bin ich damit durch. Dann geht „Psychotische Attacken“ raus als ebook. Ich bräuchte mehr Zeit … jaja, die liebe, liebe Zeit. Wo ist sie geblieben? Wo bleibt sie? 49 Jahre. Die Erde ist einige Milliarden Jahre alt. Wie oft haben wir schon gelebt? Wie lange leben wir? In diesem Leben? In allen Leben! Insgesamt? Mein Sohn stellt mir schon jetzt Fragen, die man nicht beantworten kann. Niemand. Nicht einmal die, die glauben, alles zu wissen. Das sind die Schlimmsten. Pisser. Esoteriker gibt es viel zu viele. Nichts gegen Esoterik, nur gegen diese ganzen verstockten Eso-Nazis. Eso und Öko-Nazis. Oder Christen, die in die Kirche gehen, um nach dem Gottesdienst über unsere ausländischen Mitbürger vorzugehen. Um zu hetzen! Wo stehe ich? Wo stehst du? Nicht hier. Im Augenblick nicht hier. Du bist viel zu weit weg, mein Freund. Genau jetzt bräuchte ich dich hier, für den Austausch, für die gemeinsame Kraft. Wir sitzen alle in einem Bot. Alle ziehen am selben Strang. Die Erde geht mit uns allen unter. Mit Geld ist da nicht mehr viel zu machen. Die Wanduhr läutet elfmal. Noch eine Stunde. Um 9 Uhr 5 wurde ich geboren, in Hannover. 1969. 49 ist kein besonderes Alter. Die Oma meiner Frau ist 95. Sie ist fit im Kopf. Nie getrunken, nie geraucht, mit 85 noch den Gemüsegarten umgegraben, den Krieg er- und überlebt. Mehr schlecht, als recht. Weißt du etwas von Krieg? Von Hunger? Von großer Gewalt? Nein! Wir motzen aber weiter. Immer weiter. Regen uns über Flüchtlinge auf und wissen gar nichts. Klar gibt es Arschlöcher. Mehr als genug. Es gibt auch behinderte Arschlöcher. Ich habe sechs Jahre in einer Werkstatt für behinderte Menschen gearbeitet. Es gibt Arschlöcher, die arbeiten in einer Bank. Ich bin ein Arschloch! Du natürlich nicht. Nein! DU NICHT! Glaubst wirklich, du wärst ein Gutmensch. Fühlst dich noch gut dabei, wenn dich jemand so nennt. Nennst dich selbst so. Nein, das ist nicht anmaßend – denn du bist ja einer! Klar. NA KLAR! — Ich lese diesen Text nicht gegen. Sollte ich vielleicht tun. Mach ich aber nicht. Ich schicke ihn gleich raus. An dich und an dich …

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