Bin in Danzig. Hier in der Nähe wurde 1943 meine Mutter geboren. Meine Oma flüchtete mit 7 Kindern nach Devese. Mein Opa war an der Front. Ernst, der 4-jährige Bruder meiner Mutter, starb auf der Flucht. Meine Oma trug ihn auf ihren Armen, weil er nicht mehr laufen konnte. Wenn die Russen kamen, mussten sie sich schnell im Wald verstecken. Meine Mutter, damals zwei, musste selbst laufen. Seit dem Krieg ist sie gehbehindert. Wenn ich mir vorstelle, meinem Sohn würde dieses Schicksal widerfahren, wird mir ganz schlecht. Und den Flüchtlingen von heute gehts doch nicht besser. Wie viele sterben auf ihrer Reise! Sie sind nicht zu zählen. Heute in der Fußgängerzone kauerte eine junge Mutter mit ihrem dreijährigen Sohn und hat Mitleid erregt. Sie hat ihn zum Betteln mitgenommen. Es funktioniert. Ein anderer, etwa sieben, hat Akkordeon gespielt. Das Geld gibt er sicherlich zu Hause ab. Oder eine Mafia steckt dahinter. Und ich hänge in einer Suite im Luxushotel Gdansk. Ehrlich, es ist wundervoll. 5-Sterne. Mit Blick auf die Motlau. Auf Yachten. Auf andere Hotels. Auf Passanten. Wir gehen dreimal am Tag essen. Danzig ist voller junger Leute. Alle genießen das sommerliche Flair. Die Altstadt, die damals total zerbombt wurde. Hier hat der Krieg begonnen. Alles ist heut so schick und teuer. Jedenfalls mittendrin, am Rand sieht es ganz anders aus. Dort gibt es viele arme Menschen. Jeder kämpft ums Überleben, jeder sucht eine Marktlücke, für alle möglichen Berufe gibt es Fachleute, viele, viele Menschen haben sich spezialisiert. Und jeder braucht ein Dach über dem Kopf und Nahrung. Familie. Liebe. Zärtlichkeit. Jedenfalls tut das gut, der Seele, der lieben, lieben Seele. Trotzdem, Danzig ist nicht meine Stadt. Mir fehlt die Magie, die Berlin oder Hamburg hat. Oder Siena oder Florenz. Oder die kleinen Dörfer in Polen, die wir auf der Strecke gesehen haben. Da könnte ich mir vorstellen zu arbeiten, auf dem Land. Das hat was. Armut. Ja, ich weiß, es ist ein Widerspruch zu Hamburg oder Berlin. Ich fühle für mich in manchen Gegenden eine ganz persönliche magische Atmosphäre. Diese fehlt mir hier irgendwie. Günter Grass kommt aus Danzig. Klaus Kinski aus Zoppot, ein paar Kilometer weiter am Meer. Trotzdem. Die Magie hab ich in Provincetown zuletzt gespürt. Und in dem Haus unserer guten Freundin auf Cape Cod. Und selbst bei mir zu Hause im Arbeitszimmer spüre ich sie, zum großen Glück. Und auf unserer Terrasse. Sollte ich irgendwann eine Schreibwohnung oder ein Atelier besitzen, muss ich reinkommen und Magie fühlen. Ich muss sofort wissen, wo mein Schreibtisch stehen wird. Die Wohnung oder das Zimmer oder was auch immer, die Laube, kann ganz abgelegen liegen oder mitten im Zentrum, es wird sich zeigen, wenn es soweit ist. Ich glaube dran, ganz fest. Eines Tages werde ich zu meiner Frau sagen können, ich führe noch arbeiten. Ich liebe meine Frau. Ich liebe meinen Sohn über alles. Ich wünsche mir, sie ernähren zu können. Von der Schreiberei. Aber bin ich inzwischen gut genug? Ein Verlag beißt nicht an. Bis jetzt. Vielleicht bei dem neuen Roman, der demnächst entstehen wird. Mit der Zeit wird es sich entscheiden.
So, ich mache jetzt Schluss. Es ist halb elf, der Tag war anstrengend, ich habe meine Mutter im Rollstuhl durch halb Danzig geschoben. Bis bald !