Der sterbende Künstler

Noch ein wenig kaputt von Hamburg. Aber entspannt. Eben 96 gegen Bochum geschaut. 2 : 1. – Ich sitze hier vor der Tastatur, vor dem Monitor des Laptops und warte auf Gedanken, die passen. Manche Gedanken passen einfach nicht. Sie drehen sich um irgendwas anderes. Zum Beispiel um Nichts. Können sich Gedanken um Nichts drehen? Um irgendetwas müssen sie sich ja drehen. Um eine Achse? Schwachsinn. Die Uhr tickt, es ist gleich halb elf, die Nacht rauscht heran. Viele Schriftsteller fangen jetzt erst an mit ihrer Arbeit, die Nachtschwärmer. Sie sitzen bei einem Tee oder bei einem Glas Wein am PC und fangen ihre Gedanken ab, um sie durch die Finger auf die Tastatur zu pressen. Die Wörter erscheinen auf dem Monitor und ergeben im besten Falle einen Sinn. Müssen sie aber auch nicht unbedingt. Kunst ist offen für alles – auch für Sinnlosigkeit. Für den Künstler aber macht seine Kunst Sinn. Für ihn manchmal als einzigen. Wenn er jedoch einen weiteren Menschen mit seinem Werk anspricht, ihn gar beeinflusst, hat die Kunst doppelten Sinn entfacht. Und so weiter. Wenn eine Million Menschen ein einziges Werk gut finden, ist es immer noch nicht gesagt, dass der Künstler von dieser Anerkennung leben kann. Vielleicht ist das Kunstwerk ja ein Bild, und der Maler hat es, als es ihm schlecht ging, für zehn Euro verkauft. Jetzt erscheint es im Netz und jeder will es haben, natürlich das Original. Der Künstler wird nicht reich, vielleicht aber der Inhaber, der erste Käufer. Der Künstler hat inzwischen einen Tripper oder Aids und siecht langsam dahin. Er stirbt bettelarm, weiß vielleicht noch nicht einmal was von seinem Ruhm, weil er schon im Delirium wandelt. Und der Arzt sagt es ihm nicht, weil er ihm leid tut. Dabei würde es dem Künstler eine riesige Freude bereiten, gar eine Genugtuung, dass es das Kunstwerk in die weite Welt geschafft hat. Kaufen kann er sich davon nichts mehr. Aber vielleicht erhascht er noch ein ungeheueres Glücksgefühl. Einen manischen Augenblick, den er schon so lange vermisst. Die Medikamente pletten ihn seit Monaten, seit Jahren. Die kreativen Gedanken sind längst erloschen. Die Ideen von früher gibt es nicht mehr. Ihm geht es schlecht. Er weiß um seinen Tod. Er freut sich ein wenig auf morgen, auf seinen Neffen, der mit einer guten Zigarre auftauchen wird. Irgendwann am Nachmittag. Hoffentlich. Er hat es versprochen. Er könnte ruhig einen kleinen Whisky mitbringen, auch wenn der Alkohol in der Speiseröhre brennt. Was soll’s. Es ist wahrscheinlich eh der Letzte. Die Sonne scheint, ihre Strahlen dringen durch die Lamellen, werden irgendwo im Raum von der Dunkelheit verschlungen. Aber nicht gleich. Etwas später. Noch sind sie da. Man sieht die Staubpartikel im Licht tanzen. Er schüttelt mit letzter Kraft die Decke aus, um noch mehr Staubkörner zu sehen. Ein wundervolles Bild. Ein Sonnenstrahl berührt die weiße Decke und löst sich auf. Er greift mit der Hand in den Strahl, die Hand wirft eine Figur an die Wand. Es könnte ein Hase sein. Und dann ein Wolf. Das ist Kunst, denkt er. Da ist sie, diese kleine Euphorie, die er so vermisst hat. Jetzt eine Zigarre, jetzt ein Schluck Whisky. Nur kein Mensch. Bloß kein Mensch, der dieses Bild und dieses Gefühl unterbricht. Keine Störung, bitte. Tatsächlich, keiner kommt herein, bis die Sonnenstrahlen vergehen. Der Raum ist jetzt dunkel. Er schaltet die Nachttischlampe ein und liest ein paar Zeilen von Antonin Artaud, den er nicht versteht. Er hat so viel nicht verstanden in seinem kurzen Leben. Aber darauf kommt es in der Kunst nicht unbedingt an, denkt er. Ein Gefühl ist oft viel mehr wert als ein verstandener Gedanke. Sein Gesicht verzerrt sich vor Schmerz, er presst die Lippen aufeinander. Er hofft auf morgen, er hofft auf die Zigarre. Er hat das Leben genossen. Immer wieder. Und es immer wieder neu erfunden. Mit Drogen, mit Alkohol, mit Tabak, mit Sex. Selten nüchtern. Das lag ihm nicht. Liegt ihm noch immer nicht. Er sehnte sich immer nach dem Kick. Bis zu letzt, bis zu aller letzt. Er stellt sich vor, dass die junge Krankenschwester unter seine Decke greift und … Siehst du, ich bin zu feige, es hier auszusprechen. Aber sie macht es. Sie macht es, weil sie sein Bild mag. Sein ganzes Bild. Das Gesamtkunstwerk. Er ist ja noch nicht alt. Vielleicht fünfzig. Es hätte noch so schön werden können. Aber er weiß es ja nicht. Der Neffe kommt pünktlich mit einer teuren Cohiba. Er schiebt den Künstler auf die Terrasse. Er raucht, er pafft, schickt den Qualm mit dem Wind gen Osten. Seine Gedanken sind im Hier und Jetzt. Der Neffe sitzt ruhig neben ihm, weiß nicht, was er sagen soll. Der Künstler ist froh drum. Aber er sieht aus dem Augenwinkel, dass der Neffe dem Qualm folgt. Er lächelt. Beide lächeln. Er hofft, dass der Neffe ihm zum Abschied noch eine zweite Zigarre dalässt. Das wäre ein Traum. Morgen ganz allein auf der Terrasse, morgens um sechs, wenn alle noch schlafen. Kaffee, Zigarre … und dann sterben. Endlich …

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