Entspannter Morgen. Cigar habe ich schon hinter mir, das Telefonat mit meinem Freund Cupi auch, gefrühstückt, nun mit dem Blick nach draußen zum Vogelhaus, wo sich die Spatzen tummeln. Sogar schon ein Gedicht geschrieben. Hab länger keins verfasst, doch gestern habe ich mir bei „Neuzeit“ die letzten angehört und für gut befunden. Mein Schreibstil ändert sich gerade – der für Gedichte, aber auch der für Prosa. Ich finde viele meiner Gedichte noch immer aktuell, sie treffen den Zeitgeist. Gedichte von den ganzen andern Dichtern lese ich nicht, ich mag eigentlich Gedichte nicht so gern. Und diese merkwürdige Lyrik, wo man viel zu lange über das Geschriebene nachdenken könnte, verabscheue ich regelrecht. Doch das hat ja etwas mit meinem Nichtverständnis für jene Art der Poesie zu tun. Poesie. Das erste Buch, das für mich voller Poesie war, ist „Siddhartha“ von Hermann Hesse.
Das war gestern. Jetzt ist es halb zehn, Dienstagabend. Ich sitze auf der Terrasse. Im Hintergrund sagen sich Hunderte Vögel Gute Nacht. Die Zigarre glimmt, das Bier steht neben dem Laptop. Eben zum Einschlafen habe ich meinem Sohn eine Geschichte von Janosch vorgelesen. Tiger und Bär sind auf der Suche nach dem größten Glück auf der Erde. Reichtum. Sie graben nach einem Schatz. Sie suchen im Meer. Finden dann einen Goldapfelbaum, packen die Äpfel in ihre Tragen, tauschen sie gegen Geldscheine, weil Papier leichter ist, streiten sich, prügeln sich, kommen irgendwann wieder zu Hause an und merken, wie glücklich sie dort sind. Sie haben zu Essen, können sich jeden Tag etwas kochen. Und sie haben sich – als beste Freunde! Klar, Luxus macht Spaß, egal, ob schöne Klamotten, Autos, Häuser usw. Aber einen guten Freund zu haben, ist der größere Luxus – Luxus mit Herz. Luxus, der sprechen und im besten Fall sogar mitfühlen kann. Luxus, der zuhört und antwortet. Luxus, der vielleicht tröstet, dich aufbaut, motiviert, anfeuert, auf deiner Seite ist, zu dir hält. Luxus, der dich in den Arm nehmen kann. Dich verwöhnt mit Worten, vielleicht mal mit einem Geschenk. Luxus, der dankbar ist. Und glücklich kannst du dich schätzen, wenn dein Magen voll ist, wenn du nicht an Hunger und Durst leidest. Riesiger Luxus ist es, wenn du eine Zigarre oder Zigarette rauchen kannst, zum Nachtisch. Das I-Tüpelchen, die Sahne auf der Torte, die Zitronenscheibe in der Cola, plus zwei Eiswürfel, bei 30 Grad. Glück und Luxus sind es, die dich grinsen lassen, wenn du sie annehmen kannst.
Ich habe eben mit einem sehr sehr guten Freund telefoniert. Er war aber so zugedröhnt, so bekifft, dass es mir zu blöd war, mit ihm zu sprechen. Ein falsches Wort – beleidigt – er. Hat sich angegriffen gefühlt. Weil ich gesagt habe, er ist verpeilt, verplant. Wäre er es nicht, hätte er gesagt, egal. Hätte er es mit Humor gesehen, so wie ich es versucht habe auszudrücken, hätte er gesagt, egal. Hätte gesagt, total egal. Wenn man sich ertappt fühlt, kann man sich schnell beleidigt fühlen. Wenn man weiß, dass der andere recht hat. Oder man denkt: Was willst du mir denn erzählen, du Penner! Komm doch mal selber klar! Kritik einzustecken liegt nicht jedem. Die Wahrheit schmerzt oft. Von einem Besoffenen lass ich mich auch gar nicht gern kritisieren. Gute Kritik heißt, dir sagt jemand, das oder das ist dir nicht geglückt, ich würde … Schlechte Kritik ist, wenn jemand sagt: „Das ist gut!“ „Was ist gut?“ – „Alles.“ „Und was findest du daran schlecht?“ „Nichts.“ Als Autor kannst du auf solche Kritiken verzichten. Sie bringen dich nicht weiter. Zumindest kann ein kleiner Denkanstoß helfen. Ein anderer sehr guter Freund von mir musiziert seit 30 Jahren, mit langen Pausen zwischendurch. Jetzt hat er sich ein Studio eingerichtet und ist wieder fleißig. Er fragte mich nach meiner Meinng zu seinen neuen Songs. Ich war vorsichtig, ganz zurückhaltend, da ich ja selbst kein Musiker bin, gab ihm aber ein paar Tipps. Er hat das Gesagte angenommen, aber nichts geändert an den Liedern. Dabei sind es nur ein paar Worte, die die Texte runder gemacht hätten. Ich bin nämlich der Meinung, dass wenn man in seiner Muttersprache singt, es auf (fast) jedes Wort ankommt. Songtexte sind kurz, die müssen sitzen. Ich will ja nicht den Inhalt ändern, es ging um Worte, wie „Doch“ oder zu schlichte Reime. Oder zu viele Worte auf zu wenig Instrument. Worte, die reingepresst klingen. Worte, deren Einsätze zu hart sind, nicht genau den Ensatz treffen. Sie holpern da so rein. Ist ja gar nicht schlimm, wenn man keinen Erfolg haben möchte. Möchte man Erfolg haben, muss ein Werk meiner Meinung nach rund sein. Egal, was du schaffst, es muss im Einklag sein. Hört seine Lieder ein Profi, ein anderer Musiker, hört er sofort Ecken und Kanten heraus. Ecken und Kanten: Ist Musik ehrlich, ist ein Text ehrlich, kann er natürlich auch Ecken und Kanten haben. Es kommt eben darauf an, was du erreichen willst. Würde der Profi an das Können meines Freundes glauben, an seine Kunst, würde er mit ihm sprechen und ihm konstruktive Tipps geben. Ich habe ein paar Bücher als E-Books auf dem Markt, die auch Ecken und Kanten aufweisen. Ich muss sie unbedingt noch ein- oder mehrere Male überarbeiten, schließlich bezahlen Menschen dafür Geld. Ich müsste mir aber viel viel Zeit nehmen. Die würde ich mir nehmen, wenn ein Lektor aufmerksam werden würde. Reicht da „würde“? „werden“ weg? Würde ein Lektor aufmerksam werden, so geht es ja auch. Die Aufmerksamkeit eines Lektors … usw. Ich merke schon – das Bier. Es ist jetzt 22 Uhr 17, fast dunkel, die Sichel vom Mond liegt im Westen. Die Zigarre war gut, eine etwas teurere. Nicaragua. Seht ihr, wenn mein guter Freund jetzt nicht so breit gewesen wäre, hätte ich mit ihm geplaudert und hätte das hier nicht geschrieben. Ich telefoniere viel zu viel. Auch schon lange vor Corona. Manchmal telefoniere ich bis zu vier Stunden am Tag. Es ist wie eine Sucht. Oder es ist eine Sucht. Hm. Eigentlich, eigentlich – dieses Wort ist schon gefährlich. Eigentlich sollte ich diese lange Zeit lieber zum Schreiben nutzen. Sollte. Könnte. Könnte? Könnte ich wirklich? Der Roman wartet. Die Leseprobe könnte rausgehen an Agenturen. Also, lieber Lektor, oder liebe Lektorin, gebt mir eine Chance. Ich höre auch auf, vier Stunden täglich zu telefonieren. Versprochen.
Ich bin froh, dass mir dieser Text gelungen ist. Ob er mir gut gelungen ist, wage ich nicht zu behaupten.
Bis bald
Henning