Die Ruhe. Die Stille. Das gedimmte Licht. Die Wanduhr tickt um kurz nach zehn am Abend. Das Pendel schwingt, immer ein ganz klein wenig zu schnell. Der Besuch ist weg, mein Sohn schläft seelenruhig im Ehebett.
Der Prophet
Wieso soll ich reden, wenn deine Seele die Welt bewegt? Nach dir will ich leben, du hast dein Wort in mein Herz gelegt. Prophet im Land der weisen Dinge, du gibst von deiner Weisheit preis. Eine Ehre, wenn ich dir eine Träne erbringe, du hast so viel, wovon ich nicht weiß. Wieso soll ich reden, wenn deine Seele Liebe bringt? Du erhältst mich am Leben, auch wenn mein Schatten ins Weltall dringt. Prophet, im Land der letzten Menschen, dein Schweigen ist ein Wunderschloss, du sprengst durch Liebe alle Grenzen, du gleitest auf dem fliegenden Ross. Wieso soll ich weinen, wenn deine Seele glücklich ist? Du zerschneidest die Leinen, weil du der Prophet der Liebe bist.
Manch einer glaubt, prophetisch zu sein. Oder wird von anderen Menschen zum Propheten ernannt. Weil er Hoffnung bringt. Oder weil er von der Endzeit spricht. Manch einer glaubt, ein Seher zu sein. Manch einer glaubt von sich selbst, die Weisheit gepachtet zu haben. Man sollte nicht zu viel über sich selbst glauben. In der Bescheidenheit liegt Kraft. In der Demut. In der Dankbarkeit. Doch bevor du einem von sich selbst ernannten Propheten deinen Glauben schenkst, bevor du ihm blind vertraust, glaub lieber an deine eigenen Fähigkeiten. Und auch wenn du an etwas Abstraktes, wie an einen Gott glaubst, wird dieser dich nie so sehr enttäuschen können, wie ein Mensch, dem du dein Hab und Gut geschenkt hast. Vielleicht sogar dein Herz. Mit jedem verschenkten Teil von dir, verschenkst du auch ein Stück Liebe. Lass dich nicht verletzen von eingebildeten Menschen. Von Narzissten. Sie geben nicht, sie saugen dich nur aus. Narzissmus kann man als eine Krankheit sehen – meinetwegen -, dennoch ist jeder Narzisst Egoist und Arschloch in einem. Sie haben das Talent, junge Sinnsucher zu ködern, zu beeinflussen, sie abhängig zu machen. Sie erzählen ihnen, wie gut und wertvoll sie für die Welt seien. Sie machen ihnen weis, sie seien etwas ganz Besonderes. Sie sind wie Spinnen, die ihre Beute erst fangen, dann einwickeln, ihnen die Luft zum Atmen abschnüren, um sie dann mit Haut und Haar zu verspeisen. Ein Narzisst kannst du oft schon am Blick erkennen, falls du über etwas Menschenkenntnis verfügst. Er hat einen messerscharfen, einen stechenden Blick – verlier dich nicht in ihm. Und er kann reden! Er beherrscht deine Sprache bis ins kleineste Detail. Er schmiert dir so viel Honig ums Maul, dass du von der Süße seiner Worte ganz benebelt wirst. Du willst immer mehr davon. Und dann kommt irgendwann der Knall. Es ist fast immer so. Wenn du dich an ihn gewöhnt hast, wenn du nicht mehr alles glaubst, was er dir erzählt hat. Wenn du nicht mehr blind vertraust. Wenn dein Ego selber reifer wird. Wenn du immer mehr du selbst wirst. Der Narzisst muss unweigerlich im Mittelpunkt stehen. Er braucht das. Er ist süchtig danach. Er duldet keinen Widerspruch. Es ist wie in einer Puppenstube. Bist du selbst zu einer Puppe geworden, bist du ein guter Mensch, bist du einer von ihm. In deiner Puppenstube hast du augenscheinlich alles, was du dir wünscht. Doch wehe, du fängst an, dich nach einer Freiheit zu sehnen. Dann wirst du sofort kürzer gehalten, der Narzisst, der zu deinem Guru geworden ist, tut alles dafür, dass du die Puppenstube nicht verlässt. Er bietet dir vieles von dem an, was er besitzt. Zumindest Teile davon. Er kann eigenständig denkende Menschen nicht verkraften. Menschen, über die er seine Macht nicht stülpen kann, sind ihm zuwider. Es gibt aber auch eine riesige Menge ganz kleiner harmloser Narzissten. Hampelmänner sozusagen. Lächerliche Gestalten. Die sich aufspielen, als wären sie Götter. Diese Spezies sind völlig ungefährlich. Du durchschaust sie nach dem zweiten Treffen. Vertrau auf deine Menschenkenntnis. Geiler Typ, denkst du beim ersten Mal noch. Beim zweiten Treffen wird es dann schon anstrengend, und spätestens nach dem dritten Treffen brichst du den Kontakt ab. Denk dran: Narzissten sind nie ganz ruhige Typen. Sie labern dich in die Ecke. Warst du einmal länger als zwei Stunden mit einem zusammen, bist du danach garantiert fix und fertig gewesen.
Die Ruhe. Die Stille. Die frische Luft. Der Tanz der Kerzenflamme. Das Glas des rotbraunen Rums auf meinem weißen Schreibtisch. Ein paar Spinnenweben oben an der Decke, die sich mir entgegenstrecken. Bunte Kunstdrucke, popartmäßig, mit kräftigen Farben an den Wänden. Der Schwefelduft des erloschenen Streichholzes in der warmkühlen Luft. Der angenehme Rausch in meinem Kopf. Gute Nacht!