Es ist ein wunderschöner Abend. 96 hat 1:5 verloren – dennoch war die Stimmung im Stadion superschön.
Die Schwalben fliegen hoch, die Vögel zwischtern sich zu und bereiten sich auf die Nacht vor. Ich sitze auf meiner Terrasse, trinke eine Limo und freue mich des Lebens. Der weiße Halbmond steht gen Süden am leicht gräulich blauen Himmel. Ganz still ist es hier. Ein paar Tauben gurren von irgendwoher, die Vögel werden leiser, kein Auto ist zu hören. — Mir ist klar geworden in den letzten Tagen, dass ich im Alter immer zufriedener werde. Gelassener. Ein dickeres Fell bekomme. Bewusster durchs Leben reise. Viele Jahre glaubte ich, der Mensch solle, gar dürfe nicht zufrieden sein, weil er sich in seiner Zufriedenheit ausruht und sich nicht mehr verbessern möchte. Doch so schön ist, zufrieden zu sein mit dem, was du hast. Es ist schon paradiesisch, wie ich leben darf. Um mich herum der grüne Garten, das weiße Haus, mein Kater Anton und meine Familie, von der ich behaupten kann, dass sie mich liebt. Jeden Tag sollte ich meine Dankbarkeit rausschreien. Danke! Ich fühle mich gut. Ich fühle mich gesund. Ganz bei Sinnen. Ganz bei mir – und doch mit euch. Eine Elster sitzt drüben auf dem Dach. Die Schwalben tanzen am Himmel. Säße ich jetzt in meinem Schreibzimmer, wäre ein ganz und gar anderer Text entstanden. In diesem Moment fühle ich mich frei. Ein sanfter Wind kommt auf, es wird frischer, ich werde mir eine Strickjacke überziehen, damit dieser herrliche Abend noch nicht ganz so schnell sein Ende findet. — Ein guter Freund sagte einst zu mir: „Henning, ab deinem fünfzigsten Lebensjahr wirst du stabil bleiben.“ Dies glaubte er auch von sich selbst. Mit dreinundsechzig Jahren hat es ihn dann doch mit einer schwerer Depression erwischt. Heute lebt er nicht mehr. Er sagte, er vertrage jede körperliche Krankheit, er vertrage jeden körperlichen Schmerz – doch die Depression sei nicht länger zu ertragen. Heute lebt er nicht mehr! Er ist ein gläubiger Christ gewesen. Er sagte, sein Gott wisse, wie er leide. Und er sagte, sein Gott verzeihe es ihm. Heute lebt er nicht mehr. In seiner letzten Woche hauchte er, jetzt werde es abenteuerlich. Er konnte kaum noch sprechen und dennoch fragte er immer und immer wieder, wie es meinem Sohn gehe. Zwanzig Minuten nachdem er eingschlafen war, durfte ich mich von ihm verabschieden.
21 Uhr 30.
Nun werde ich noch eine Zigarette rauchen. Die letzten Zeilen für den heutigen Abend schreiben. Kaum ist noch ein Vöglein zu hören. Ich gähne. Freue mich aufs Bett. Gerade ist ein Helikopter über mich hinweg geflogen. Wäre ich jetzt gerade psychotisch, hätte ich mir auf der Stelle Gedanken darüber gemacht. In der Psychose gibt es keine Zufälle. Jeder Windzug wird gedeutet. Jedes Insekt. Wäre ich jetzt gerade psychotisch, würde ich der Natur Fragen bezüglich meines Lebens stellen. Und zwitschterte ein Vogel, hätte ich eine Antwort. Zum großen Glück bin ich auf dem Teppich. Und der Teppicht liegt fest auf dem Boden. Nichts deutet darauf hin, dass er abhebt.
Gute Nacht!