Ich habe Lust, noch ein paar wenige Zeilen zu schreiben. Bei einem Glas Wein, in voller Ruhe und Stille. Schon ab morgen hängt hier wieder in meinem kleinen Zimmer die Wanduhr (das einzige Erbstück meines Vaters) von 1910, welche er geschenkt bekommen hat. Gerade ist es 22 Uhr 10 und im Haus ist es ganz still. Ordnung herrscht derzeit in meinem Schädel. Ich bin froh, trotz des einen Glas Weines, dass ich weitgehend nüchtern und klar bin. Ich freue mich des Lebens und freue mich besonders darüber, wieder über einem Schreibprojekt zu brüten. Jetzt heißt es erst einmal zu recherchieren. Von den sieben Kindern meiner Großeltern leben noch drei. Eine Tante, ein Onkel und meine Mutter. Hinzu kommen noch ein Cousin und eine Cousine jener Verwandten, die ich gerne befragen möchte, wie sie die Flucht erlebt haben und was sie sonst noch alles so aus der Vergangenheit wissen, und natürlich bereit sind, preiszugeben. Schon sehr bald wird es nämlich leider keine Zeitzeugen des zweiten Weltkrieges mehr geben. Also nehme ich mir vor, das Gaspedal etwas stärker durchzutreten. Nur eine Kurzgeschichte über Onkel Erwin wollte ich zu Papier bringen – doch schnell habe ich gemerkt, dass da mehr zu machen ist. Ich bin selbst gespannt, wie viele Informationen ich zusammentragen kann, um daraus evtl. ein ganzes Buch zu gestalten. Interessant ist die Geschichte meiner Familie allemal. Das Wundervolle daran ist, dass ich nicht aus meiner Fantasie heraus zu schreiben brauche. Ich muss also nicht mit mir selbst hadern, dass sie mir weitgehend abhanden gekommen ist. Über den Schreibstil habe ich mir nach der Idee als erstes Gedanken gemacht. Ich werde so schreiben, wie Onkel Erwin gesprochen hat, also grammatikalisch einiges frei nach Schnauze. Nun hoffe ich, dass meine Familie sich öffnen wird. Ich bin durchaus zuversichtlich. Ein ernstzunehmendes Projekt, welchem ich eine (hoffentlich) gesunde Portion Humor zuordnen werde.
Und wieder sind eine Nacht und ein Tag vorüber. Die Wanduhr meines Vaters hängt zwar, aber einwandfrei funktioniert sie noch nicht. Zudem nimmt Ihr Ticken meinem kleinen Zimmer die Stille – und mir die Konzentration.
Montag, 22 Uhr 50
Schnell fliegen Tage und Nächte dahin. Zu schnell. Zu kurz sind sie. Zu schade ist es, wenn du deine wertvolle Zeit im Klo runterspülst. Zu schade ist es, wenn du dich langweilst und nichts mit dir anzufangen weißt. Wie vielen Menschen ist, seitdem es TV gibt, der Gesprächsstoff ausgegangen. Dann doch lieber zu zweit eine Flasche Wein und ein nettes Gespräch, als stumpf in die Mattscheibe zu starren. Klar, fernsehen lenkt ab. Augen auf, Kopf zu. Millionen von Menschen schalten schon morgens das Ding ein. Sie können sich ein Leben „ohne“ nicht mehr vorstellen. Was bringt es denn, nicht zu rauchen, nicht zu trinken und sich trotzdem nicht vom Sofa zu erheben, um gesund zu bleiben bzw. zu werden? Im Leben geht es immer und immer wieder um Verzicht und Disziplin. Am besten man schmeißt den Apparat aus dem Fenster oder tritt ihn kaputt. Und die Zigaretten, den Alkohol und alles andere, was süchtig macht, gleich mit. Was das Leben dann noch soll? Dann fängst du erst an zu leben. So wie als Kind. Du lernst wieder mit dir umzugehen. Du kommst zu dir. Findest dich vielleicht. Findest heraus, wie du wirklich tickst. Nun tickt auch die Wanduhr seit einer halben Stunde gleichmäßig. Eine Frage habe ich heute Abend noch: Schenke ich mir noch ein Glas Wein ein oder nicht? Es ist spät. Morgens um sechs klingelt der blöde Wecker. Ich bin hin- und hergerissen. Ein voller Tag liegt vor mir.
Dienstag, 13 Uhr 30
Mir fällt nichts ein in diesem Augenblick. Ich warte auf Worte. Rauche eine Zigarette, trinke eine Tasse Kaffee, komme gerade von der Arbeit und habe nun eine Stunde Zeit, die ich gerne nutzen möchte. Ich könnte mich zum Beispiel hinlegen. Ich könnte einen Spaziergang machen. Holz hacken haut wegen der Mittagsruhe (hier auf dem Land) nicht hin.
22 Uhr 20
Und wieder ein Tag mehr gelebt. So schnell kann das Leben zu Ende sein. Gerade dann, wenn du nicht mit rechnest, haut es dir den Boden unter den Füßen weg. Was auch immer passiert – wahrscheinlich hat es einen tiefen Sinn. Daran glaube ich. Nicht immer kommt man gleich dahinter, doch im Laufe der Tage, Monate und Jahre klärt sich einiges auf. Ja, es kann dauern. Auch bis zum Tod. Jeder Tag ist entscheidend, jede Handlung birgt Konsequenzen in sich. Und wie gesagt: Es gibt immer die Minute davor, in der du abwiegen kannst. Es sei denn, du bist so voller Suff und Drogen, dass Herz und Verstand versagen. Es sei denn, du bist so besoffen, dass dir alles scheißegal ist. Zu entschuldigen ist dieses Verhalten trotz dessen nicht. Schon allein deswegen nicht, weil es bescheuert ist, dir den Kopf wegzuballern.