Das letzte Gedicht

Es ist Sonntag, 22 Uhr 45

Ich musste die letzten Wochen erst mal sacken lassen. Denken. Ich werde auch nicht viel schreiben. Momentan gehen mir leicht Gedichte von der Hand, die ihr unter „Neuzeit“ oder auf Spotify hören könnt. Es wird ältere, alte und neue Gedichte geben, alle sehr aktuell, den Zeitgeist treffend. In der Regel altern Gedichte nicht. Gedichte sind die wahrste Form der Literatur. Wenn man nicht zu sehr drüber nachdenkt, was man schreibt, nicht jedes Wort auf die Goldwaage legt. Gedichte müssen aus den Fingern fließen, wie aus einer Quelle, wo immer sie auch entspringt. Man weiß es nicht. Ich glaube, nicht unbedingt im Dichter selbst, es ist eher etwas, was von außen in dich dringt, und wieder heraus muss, damit du nicht total durchdrehst. Nichts ist wahrer als das Gedicht. Ich halte nichts von lyrischen Versen, die keiner versteht, wo man Stunden- oder Jahre lang drüber nachdenken kann. Gedichte müssen meiner Meinung nach direkt sein, für jeden verständlich, auch für den ungeübten Leser oder Hörer. Dieses Geseier von schönen Worten, nur, um schöne Worte aufs Papier zu bringen, ergibt nicht viel Sinn. Ich glaube sogar, dass es eine Menge Lyriker gibt, die nicht einmal selbst verstehen, was sie da zu Werke gebracht haben. Gedichte sind ehrlich. Gedichte sind wahr. Dichter sind oft Propheten. Aber warum in Gottes Namen müssen Gedichte so oft so kompliziert sein? Und warum sind Reime heut nicht mehr angesagt? Jeder Liedtext besteht aus Reimen, aber ein modernes Gedicht ist out, wenn es gereimt ist. Ihr habt ne Macke. Es geht nicht um Reime oder um keine. Es geht um die Aussage der Verse, um den Sinn im besten Fall. Gedichte haben und machen Sinn. Eigentlich mag ich nur meine Gedichte. Ich habe in meinem Leben nicht mehr als 50 bis 80 Gedichte gelesen. Falls überhaupt. Aber ich habe mit zwanzig angefangen, welche zu schreiben. Ich wusste nicht, wo die Worte herkamen. Waren es überhaupt meine Worte? Ich habe erst angefangen zu schreiben, dann zu lesen. Dann zu verstehen, worum es geht. Um Aussagen. Um Wahrheit. Schreibe das, was zumindest wahr sein könnte. Ich mag keinen Horror, kein science fiction, kein Harry Potter oder Herr der Ringe. Ich brauche Wahrheit. Was Ehrliches. Zuerst habe ich Auszüge des Neuen Testaments gelesen, dann Siddhartha von Hesse, auch Stephen King und anderen blutrünstigen Kram. Ist jetzt nicht mehr wichtig. Hier liegen Hunderte Seiten Gedichte. Reime. Gesammelte Werke. Ich habe sie noch nie an einen Verlag geschickt. Weil eben Reime nicht mehr angesagt sein sollen. Eine Autorin sagte mir, sie schreibe keinen Kinderkram mehr, meinte, keine Gedichte. Gedichte kann man immer schreiben. So lange, bis man mit kaputter Lunge Blut hustet. Neben mir im Sterbebett müssen auf dem Nachtisch Block und Stift liegen. Mein letzter Wille: Vielleicht ein Gedicht – egal ob Reim oder nicht. Unwichtig. Halte ich auf einer Beerdigung eine Rede, lese ich auch ein Gedicht vor. Für gute Freunde werde ich eines schreiben. Etwas Passendes. Etwas Ehrliches. Etwas Wahres. Etwas Göttliches. Ja – göttlich. Gedichte sind göttlich. Sie fallen vom Himmel. Du kannst dich als Dichter nicht dagegen wehren. Versuch es, es wird dir nicht gelingen. Du musst reimen, oder eben nicht reimen, aber du musst schreiben, du musst dichten. Du hast es dir nicht ausgesucht, das Gedicht kam zu dir, hat dich gefunden, überrumpelt, dich in den Bann gezogen. Dich zum Weinen gebracht. Dich verrückt gemacht. Du bist über deine eigenen Verse erstaunt, wenn du sie lange nicht gelesen hast. Du kannst dich an viele Gedichte nicht im geringsten erinnern. Hast jedes Wort vergessen. Weil alles so schnell ging. Du hast während des Schreibens nur noch funktioniert. Gedichte, die über Tage enstehen, brauchst du nicht zu lesen. Sie sind unwahr. Sie kommen nicht von Herzen. Sie kommen nicht von Gott. Du denkst zu viel. Schiebst Wort um Wort, suchst immer ein besseres. Damit ist das Gedicht schon zum Scheitern verurteilt. Schreib nie länger als 20 Minuten an einem Gedicht. Feil nicht lange dran rum. Machs nicht unehrlich. Ich musste das tun. Warum, werdet ihr irgendwann erfahren. Vielleicht ist es jetzt auch egal. Derzeit wird ganz viel egal. Derzeit gibt es viel viel Wichtigeres. Zum Beispiel das Leben. Nicht nur das eigene. Über die Flüchtlinge überall auf der Welt wird kaum noch gesprochen, Jeder lebt im Egowahn, jeder hortet Klopapier. Du kannst es nicht fressen. Du kannst ein Gedicht drauf schreiben. Streikt der Computer, gibt es keinen Strom mehr, hast du Glück, Stift und Block zu haben. Und Bücher. Oder ein paar Schreibmaschinen mit frischen Farbbändern.

Ich mach jetzt Schluss, es ist 23.15.

Gute Nacht   !

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.