BLOCK im Blog (Kapitel 1)

BLOCK

Durch die lange Fensterfront ihres Ateliers dröhnte ohren- und kopfbetäubend unermüdlich die Trompete Louis Armstrongs. Der Himmel war schwarz und glitzerte silbern. Ich stand hinter dem dicht belaubten alten Boskop in unserem Garten und bespitzelte sie. Schon am Vormittag hatte sie mir eingeschärft, dass ich sie heute Abend nicht stören dürfe, ansonsten würde ich mir meine Überraschung verderben. Voll Eifer drückte und goss sie aus Tuben und Eimerchen eine Farbe nach der anderen in kleine Gläschen und verschraubte diese.           

Sie war nackt. In ihrem Atelier arbeitete sie immer nackt. Jedenfalls immer, wenn sie manisch war. War sie depressiv, wie zumeist üblich nach einer manischen Phase, betrat sie ihr Atelier nur in den seltensten Fällen – und zwar nie nackt. Dann schlurfte sie mit gesenktem Kopf höchstens einmal hindurch und verließ es genauso niedergeschlagen, wie sie es betreten hatte. Es hatte nicht einmal den Anschein, als wolle sie sich davon überzeugen, dass wirklich sie es gewesen war, die die vielen fröhlichen Bilder gemalt hat. Doch selbst das Wissen, dass sie die angesagteste Künstlerin weit und breit war, konnte sie nicht aus der Reserve locken.

Es war der Abend vor meinem zwölften Geburtstag. Bei dem letzten Gläschen, das sie zuschraubte, sah ich, dass ihre Hände zitterten. Drei Stunden hatte sie damit zugebracht aus ihrem gewaltigen Sortiment Farben abzufüllen, ins richtige Verhältnis zu mischen und mit Öl oder Wasser zu verdünnen. Jedes Gläschen hatte sie durch ihre meisterhaft kalligraphische Schrift in ein kleines Kunstwerk verwandelt. Hinter den Gläschen reihten sich nagelneue Spachtel, Pinsel, Rollen, Tupfer, Schwämme und Schaber. Sie schenkte sich ein weiteres Glas Champagner ein und rauchte eine schlanke weiße Davidoff. Als sie die Glut ausdrückte und sich darauf ihr langes schwarzes Shirt überzog, wusste ich, dass ihr Werk für heute vollendet ist. Rasch machte ich mich aus dem Staub.

Ja, sie hatte recht. Ich hatte mir meine Überraschung verdorben. Aber ohnehin war es für mich eher eine Niederlage als eine Freude. Ich hatte mir Computerspiele und einen neuen PC gewünscht.

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