Der neue Jesus

0 Uhr 43 – St. Pauli

Es kommt darauf an, wo du in Hamburg wandelst. Ich hatte heute vollen Kontrast. Der Tag mit Jean ist wundervoll gewesen. Den Abend bzw. die Nacht verbringe ich allein. Na ja, nicht ganz, mit zwei Katzen in Jeans Wohnung auf Pauli. Zwei Minuten bis zur Großen Freiheit. Drei Minuten bis zur Reeperbahn. Durch die Große Freiheit bis zur Jeans Wohnung habe ich ca. 20 Minuten benötigt, Massen von Menschen haben sich dort bewegt. Oder haben gestanden – in Gruppen. Auf der Reeperbahn ist es nicht anders gewesen. Ich bin die ganze Meile langgegangen und habe etwa 45 Minuten gebraucht. Ich habe noch nie so viel Sinnlosigkeit auf einem Haufen gesehen. Die Gespräche sind haarsträubend gewesen. Es geht um Schlägereien, um Autos, um Jobs, um Sex, um Geld, ums Saufen. Eine riesengroße Feier findet nachts auf der Reeperbahn statt. Wunderschöne Frauen und Männer, die grölen, tanzen, kiffen, trinken, ficken. Und morgen ist wieder jeder für sich allein. Der Alltag beginnt spätestens am Montag. Das Leben besteht nicht nur aus einer einzigen Party. Dafür ist es zu kostbar. Jaja, ich merke, ich bin alt geworden. Morgen fahre ich in mein spießiges Dorf zurück. Ich freue mich drauf. Der Trubel hier ist mir zu viel. Doch muss ich zugeben, dass er unglaublich inspirierend ist. Für mich inspirierender als ein stiller See oder ein rauschender Fluss. Viel inspirierender als ein Berg oder ein Wald. Menschen schenken Inspirationen. Menschen geben mehr Kraft als alles andere Lebendige. Selbstverständlich kommt es darauf an, was du schreiben, was du malen, was du komponieren, was du bauen willst.

Bevor ich mit der U-Bahn nach Pauli gefahren bin, war ich auf ein Kännchen Tee im Hotel Atlantic. Ich habe gehofft, Udo zu begegnen. Da er nicht zugegen war, habe ich den Portier gefragt, ob er mein Buch für ihn hinterlegen könne. Er könne mir nicht garantieren, dass es bei Udo ankomme. Idiot. Generell würden sie nichts für Udo annehmen. Vor drei Jahren im Kino auf dem Klo sagte Udo zu mir, ich müsse die Welt immer noch retten. Wie soll das gehen – allein? Ich bin ja nicht ganz allein. Immerhin ist Jean an meiner Seite. Ohne ihn hätte ich nämlich überhaupt keine Bücher. Doch Jean und ich reichen nicht. Und TB und Jens, die mich ebenfalls unterstützen, reichen auch nicht. Ich brauche jemanden mit Einfluss. Einen Verlag werde ich nicht finden. Frau Dr. Margot Käßmann hat mir geschrieben, sie freue sich, dass ich nun einen Weg gefunden habe, meine Gedichte zu veröffentlichen. Das reicht nicht. Gar nichts reicht bisher. Bei meiner letzten Lesung waren etwa 40 Zuhörer. Und danach? Alle gehen ihren eigenen Weg, was normal ist. Ich wurde gefragt, ob ich Jesus sei. Meine Antwort lautete: „Nein, ich bin nicht Jesus. Ich bin Henning.“ Und wenn Jesus käme, würde man ihm nicht glauben. Man würde ihn einsperren. Oder er würde, da man ihm nicht glaubt, vor Herzschmerz zu Grunde gehen. Ein Jesus ist zum Scheitern verurteilt. Genauso wie vor 2000 Jahren. Ein Jesus muss Geld verdienen, damit er sich das Brot und die Butter leisten kann. Damit er seine Miete zahlen kann. Eine Jesus hat keine Chance. Es sei denn, er hat was in der Hand. Eine neue Bibel zum Beispiel. Eine neue Bibel, die gelesen wird. Weltweit. Wie stellt ihr euch denn den Jesus von heute vor? Er wird ja nicht mal seinen alten Namen tragen. Vielleicht heißt er Peter Müller oder Horst Schmidt. Vielleicht ist er Taxifahrer, Klempner oder Schauspieler. Der neue Jesus könnte dein Nachbar sein. Er sitzt zu Hause und trauert um die Menschheit, trauert um die Erde, trauert um die ganze Welt. Er brät sich ein Ei und trinkt ein Bier. Schaut einen Film. Und geht wieder seiner Arbeit nach, obwohl er weiß, wie sinnlos das alles für ihn ist. Nicht ganz sinnlos – schließlich braucht er ja das Brot, die Butter, die Miete. Jesus hat nicht das Glück, dass ihn ein Verlag druckt. Alle Verlage haben Schiss. Es ist so weit gekommen, dass er hofft, dass man ihn erschießt. Vielleicht, ganz vielleicht wird so die Welt auf ihn aufmerksam. Ein religiöser Mord. Ein Mord aus den Impulsen der Religionen. Der neue Jesus wird erschossen. Damals wurde er gekreuzigt, heute jagt man ihm eine Kugel in den Schädel. Na und. Die Welt wird sich weiterdrehen. Die Erde wird nicht untergehen. Hat der neue Jesus die neue Bibel als Nachweis, muss er sterben. Ich glaube, es gibt keine andere Möglichkeit. Was schade ist. Hätten diejenigen, die Einfluss haben, ihm Glauben geschenkt und die neue Bibel verbreitet, sähe die Sache anders aus. Der neue Jesus würde Polizeischutz bekommen. Bekommt der Papst ja auch. Und jeder Präsident und jeder Kanzler und jedes hohe Tier. Und selbst der Mörder. Die neuen Propheten, die berühmten Künstler, hätten ihm den Weg bereiten können. Alle zu feige. Alle zu ungläubig. Dieses Arschloch von Hotelboy im Atlantic. So ein Vollidiot. Wie kann man so bescheuert sein! Eingebildeter Fatzke. Schleimscheißen kann er bei der Prominenz. Den aalglatten Vollhonk mimen. Hätte er gewollt, hätte er gekonnt. Das war es mit der Chance auf Udo. Wer bleibt denn noch? Wer ist denn erreichbar? Für mich wohl keiner. Weil sich alle in die Hose scheißen. Außer Jean. Außer TB. Außer Jens. — So, ich rauche jetzt noch eine Zigarette, trinke mein Astra Urtyp aus, werfe meine Pillen ein, höre einen Podcast und schlafe hoffentlich schnell ein.

Die Nächte ticken auf Pauli anders als bei uns auf dem Land. Es ist 1 Uhr 57. Wie inspiriert ich hier doch bin. Ich habe das Gefühl, ich könnte einen ganzen Roman in dieser geilen Wohnung schreiben. Es wäre ja möglich, müsste ich nicht ackern, um dieses verschissene Geld zu verdienen.

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