Am häufgisten sind es Begegnungen, die nicht zufällig geschehen

Halb zehn abends, am Montag

Das Wochenende ist verflogen wie Wolken im Sturm. Ralf kam mit einem Gespann – also einer alten weißroten BMW mit Beiwagen. Jetzt ist er auf dem Weg nach Frankreich, holt seine Freundin von dort ab, dann gehts weiter in die Schweiz. Er transportiert wundervolle Münzen in seinem Koffer, die ersten beiden, die mir ins Auge sprangen, kann ich nun mein eigen nennen. Das heißt, eine davon gehört ab nächste Woche meinem Sohn, ein Geburtstagsgeschenk. Seit Jahren trage ich eine finnische Zwei-Euro-Münze mit einer ausgeschnittenen Friedenstaube als Symbol um den Hals. Von nun an ist es eine 150 Lire Münze aus dem Vatikan – wieder mit einer Friedenstaube. Sie glänzt und wird ihren Glanz behalten, da sie aus Edelstahl besteht, sie ist auch etwas größer als das Zwei-Euro-Stück, also ist sie um einiges auffälliger. Ralf sagt, nie wieder wird er diese Taube sägen, da Edelstahl so verdammt hart ist, also viel härter als Bronze, Messing, Kupfer, Silber und Gold. Mein Sohn hat mich vor ein paar Wochen gefragt, wer die Kette, die ich seit Jahren getragen habe, bekommt, wenn ich tot bin. „Natürlich du“, war die Antwort. „Wer sonst!“ „Ich dachte, die nimmst du mit in den Sarg.“ Überflüssig, oder? Soll jeder glauben, was er möchte. Schenk deinem Kind irgendwann das Persönlichste von dir. Und wenn du dran hängst, sag ihm, dass es seins ist, sobald du tot bist. Ich habe von meinem Großvater eine Taschenuhr geerbt, die er sogar noch in Turin und Florenz unter amerikanischer Gefangenschaft behalten durfte. 1998, in meiner zweiten Psychose, habe ich sie volles Programm auf den Asphalt gepfeffert, sie ist in die allerkleinsten Teilchen zersprungen. Ich denke oft an die Uhr, an meinen Großvater aber weniger. Ich habe sie damals zerschmettert, weil ich glaubte zu wissen, dass er ein übler Nazi gewesen ist. In jenem Moment war ich voller Hass und Abscheu. Mein Großvater hat dreizehn oder vierzehn Enkel und Enkelinnenen gehabt – es war das einzige Erbstück seinerseits, meine Großmutter wollte, dass ich es bekomme. Ich wusste schon als Kind, dass es einmal meine Uhr sein würde. In einer zehntel Sekunde war sie vernichtet. In einer zehntel Sekunde stirbst du durch eine Kugel im Kopf. Ich weiß nicht, ob er ein Mörder war – aber wer von den Soldaten an der Front war es nicht? Kein einziges Wort hat er jemals in meiner Gegenwart über den Krieg verloren, weder über den ersten, noch den zweiten. Ich habe ihn nie lachen sehen. Es war keine Unterhaltung möglich, er schwieg und schwieg. Und paffte Handelsgold in der Küche, die er nach drei Zügen auf Lunge immer ausglühen ließ, um sie sich über den Tag einzuteilen. Er saß nicht beim Paffen, er schlurfte hin und her. Er benutzte nie ein Feuerzeug, immer einen Streichholz. Meine Großmutter ging mit sieben Kindern auf die Flucht. Ernst, der den gleichen Namen wie mein Großvater trug, starb, er war drei – meine Mutter war mit zwei die jüngste. Todkrank. Alle Kinder waren krank. Alle Kinder haben gehungert, waren unterernährt, froren bis kurz vor den Tod, oder bis in den Tod – ihr habt von dem Winter ’45 gehört. Von Danzig nach Hannover. Mein anderer Großvater, Taube, war Berufssoldat. Ich erinnere mich an ein altes Foto, wo er mit drei Kammeraden, alle in dunkle Mäntel gehüllt und mächtigen Gewehren im Anschlag, posiert hat. Ja, posiert. Und mein Vater? Er ist ’36 geboren, hat auch nie von früher erzählt. Sein Bruder, ein paar Jahre jünger, lebt noch, ich weiß nicht, ob er reden würde. Einiges hat er mir erzählt, aus der Jugend meines Vaters, aber nichts aus seiner Kindheit. Der Taube-Großvater hatte dreizehn Geschwister, allesamt sind in die USA, nach Kanada und, ich glaube, nach Australien, genau weiß ich es nicht, ausgewandert. Den Namen Taube soll es ziemlich häufig geben. Mein Sohn wird wegen des Namens häufig von seinen Mitschülern gehänselt. Wurde ich auch, sag ich dann, aber irgendwann wirst du diesen Namen lieben. Als meine Frau schwanger gewesen ist, habe ich mir gewünscht, dass sie einen Jungen in sich trägt. Und als ich 2003 die ganzen Gedichte geschrieben habe, schrieb ich über einen Sohn, der mir geschenkt wird. Keine Liebe kann größer sein. Jedenfalls in meiner Welt. Und ja, ich glaube an Gott, an den christlichen Gott. Aber über allen Göttern steht der UrGott. Und doch werde ich einen Gott in dieser Form als Mensch niemals so innig lieben können wie meinen Sohn, mein Fleisch und Blut, die kleine Taube. Ich glaube an meinen Sohn. Ich glaube an Jesus, an Gott, an den UrGott. Ich glaube an mich. Ich glaube an meine Gedichte. Ich glaube daran, dass sie die ganze Welt beeinflussen können. Und werden. Irgendwann. Es gibt eine Menge Dinge auf der Welt, die nicht zufällig geschehen. Daran glaube ich auch. Am häufigsten sind es Begegnungen. Halt Augen, Ohren und Herz offen. Verschließ dich nicht. Meine Mutter sagte immer, Gleiches zieht Gleiches an. Was du aussendest, erhältst du zurück. Strahlst du Liebe aus, wirst du geliebt. Strahlst du Hass aus, wirst du gehasst. Allerdings kann man natürlich nicht immer in voller Liebe durch die Welt gehen. Es gibt so viele behämmerte EsoMenschen, die sofort ein beklopptes Lächeln auf den Lippen haben, wenn du ihnen begegnest. Die zeigen die ganze Zeit ihre tadellosen Zähne, wenn du Glück hast, sind sie tadellos, ansonsten wird dir gleich noch übler im Magen. Es ist nicht alles zum Lächeln und Grinsen. Aber viele Esos schotten sich von der Wahrheit ab, wollen sich ihre Seele nicht dreckig machen lassen, meditieren lieber, machen Yoga, hängen in der Natur ab, genießen die volle Stille, fühlen sich durchleuchtet – fühlen sich besser. Ich hör lieber auf. Mich kotzt ne Menge davon an. Sechs Jahre lang bin ich solchen Menschen gefolgt, und worum ging es am meisten? Immer und immer wieder? Na? Klar – um Money. Um Taler. Kohle. Zaster. Knete. Mäuse. Kröten. Dollars… Um Macht und Unterdrückung und Gehorsamkeit. Geistig und seelisch behinderte Menschen wurden bis aufs Äußerste beieinflusst und manipuliert – und wehe, es hat sich jemand aufgelehnt in jener Puppenstube. Ich bleibe jetzt gelassen. Der Abend ist zu mild und zu schön. Der Whisky killert die Kehle, die Zigarre ist aus, im Magen herrscht ein leicht bis starker Druck.

Zehn vor elf. Wollte eigentlich schon längst schlafen. Bin total kaputt. Du kannst jetzt sagen, ja, das lese ich gerade. Mir egal. Morgen ist wieder alles ganz anders. Ganz neue Gedanken.

Gute Nacht

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