Ja, ich lebe noch!

Sonntagabend. Winter. Minus zehn. Tagsüber Sonne satt. Kaum Wind. Hier drinnen warm, gemütlich, ein Gläschen, eine Kerze, keine Musik, Stille, dezentes Licht. Sattgefressen, angetrunken, drüben steht das Bett bereit. Aufgeschlagen, es wartet. Kuschelig. Und fett reinlegen … Mit gutem Gewissen … angeblich … Nein, du lügst natürlich nicht – nein – NIE! Du sagst IMMER die Wahrheit! – weil ja Ehrlichkeit die höchste Tugend ist. Jaja, klar, NA KLAR! Wir liegen fettgefressen im Bett, furzen und rülpsen, drehen uns, träumen … es ist ja so warm, so warm … Und ein paar Kilometer weiter friert der Obdachlose in der Sackgasse bei minus zehn. Zittert. Vor Kälte und Entzug! Entzug vom Alk, noch viel mehr Entzug von der Liebe. Er war mal ein Baby, ein Kleinkind, Schüler, Jugendlicher, vielleicht Lehrling, vielleicht Studierter … BROCH! Dann hat’s reingehaun – mitten im Leben hat’s ihn erwischt! Schizophren. Psychose. Wahnvorstellungen. Frau haut ab, hält es nicht mehr aus. Brennt mit seinem Freund durch, mit seinem besten! Heiratet, kriegt Kinder … Glücklich, so glücklich … Klapse. Psychiatrie. Nervenheilanstalt. Sanatorium. Ballerburg usw. Geschlossene. Dauerpatient … Die Stimmen … von überall kommen sie her … Sie sind beharrlich, bleiben, Tag und Nacht, rund um die Uhr! Zum Kotzen. Sie sind beleidigend. Machen einen fertig! Knocken dich aus. Du schlägst um dich. Fühlst dich bedroht, von dem Mann da drüben! Ja, er ist der Feind! Du schlägst ihm den Schädel ein! KNAST! Schwere Körperverletzung. Drei Jahre! Ohne Bewährung! Schräg im Knast. Komische Typen. Auch ein paar coole. Alles vertreten. Räuber. Vergwaltiger. Mörder usw. Sie können ja nicht in dich reingucken! Du schweigst nämlich. Schon die ganze Zeit. Keiner weiß was von deinen Stimmen. Du sprichst innerlich mit ihnen. Und nachts, wenn keiner zuhört. Dann sind sie besonders laut. Sie versprechen dir die Frau für’s Leben! Sie ist wunderschön. Du greifst nach ihr – sie schreit dich an, macht dich fertig, lacht dich aus, einen wie dich will sie nicht. Nie. NIEMALS! Und ich sitze hier am Schreibtisch, schlürfe Roten und freue mich auf die nächste Zigarre. Die ich vielleicht erst im Hotel Atlantic rauche, wenn ich mal da bin. Will nämlich Jean besuchen, ins Atlantic gehen, Whisky nippen, klönen usw. Nein, nicht mit mir allein. Sowieso nicht. Ist ja ganz schön, schizophren zu sein, sagte mal eine Krankenschwester zu mir, sind Sie nie allein. Ha! HA! Ist auch egal jetzt. Der Mann hat keine Chance. Er wird krepieren, arm, hungrig, allein, einsam. Keiner wird zur Beerdigung gehen. Vielleicht einer oder zwei andere Psychos. Ja, vielleicht … Von früher keiner … Er hat ja SO gestunken die letzten Jahre! War ja nicht auszuhalten. Dreckschwein. Krank … Aber nicht mit mir ey! Nee … nicht mit mir! Der soll mich in Ruhe lassen, der Drecksack! Aber n Naziarschloch bist du überhaupt nicht, nä? Wer? ICH! Sag mal, spinnst du jetzt total! Ich glaube schon! Früher hät’s so was wie dich nicht gegeben, jedenfalls nicht lange, siebzigtausend waren zu wenig, wenn man sich heute mal umguckt … Nicht wahr, du Psycho! Vielleicht hätte es ja geklappt, ich meine das mit dem Vererben, das mit dem Erbgut! Hätten sie doch damals nur alle ausgelöscht … Aber Nazi bin ich trotzdem nicht … ich habe ja einen türkischen Kumpel … Jaja … Klar, gib mal rüber das Bier! Scheißkiffer! Scheiß kleiner Kiffer! Lass mich mit dem Kraut in Ruhe! Das macht total doof! Saufen ist viel geiler! Sonst wäre es ja nicht erlaubt! Kiffen ist verboten! Die müssen alle in den Knast! Für IMMER!

Wisst ihr was? Ich höre jetzt auf. Es powert aus. Es gibt so viele Kranke. Und von uns sperren sie viel zu viele ein und pumpen sie zu. Was soll’s. Ich lebe ja noch   !

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