Tod und Religion

Manchmal läuft es nicht ganz rund. Ganz und gar nicht. Hat ja alles Ecken und Kanten, das Leben vor allem, es holpert und ruckelt, in jedem Fall ist es wellig. Der Weg verläuft nicht grade. Nie verläuft er auf lange Sicht ganz grade. Von einer Sekunde zur anderen reißt es dich aus der Bahn – ein Unfall, eine Krankheit – im schlechtesten Fall der Tod. Natürlich nicht dein eigener. Nie. Tabu. Noch immer. Bloß nicht drüber sprechen, über deinen eigenen, das bringt Pech. Angeblich. Und dann die Erschütterung, wenn es dich gepackt hat, vielleicht am Herzen, ein Schlag im Hirn, Krebs … Und genau dann fängst du an, dein Leben wichtig zu nehmen, und wenn du dich etwas erholt hast, weißt du hoffentlich, dass du überhaupt lebst, und wofür, wenn es noch besser läuft. Und inzwischen ist dir klar, wieviel unwichtige Scheiße auf der Welt unterwegs ist. Es geht nicht mehr darum, ob wir zum Mars fliegen, es geht auch nicht mehr um eine Fußballmanschaft oder um deinen Nachbarn, der dich immer ärgert – nichts anderes als dein eigenes Leben ist noch von Bedeutung. Vielleicht willst du für deine Familie leben, gesund werden sogar. Vielleicht für dich selbst. Vorerst. Du gewöhnst dich wieder an den besseren Zustand, das Interesse wächst wieder an der Außenwelt, der Mars, deine Lieblingsmanschaft, dein Nachbar … Aber du hast etwas gelernt: Du erfreust dich am Leben. Am Leben der Pflanzen und der Tiere. Die ganze Erde lebt – du fühlst dich mit ihr mehr verbunden denn je. Dich macht es glücklich, wenn du ein kleines Kind lachen siehst. Ein Schmetterling mit all seinen Farben. Du erkennst seine Freiheit. Sein Glück. Du willst ewig leben. Du sehnst dich nach dem ewigen Glück. Deine Freunde sind für dich da, die, die wahrscheinlich schon so lange für dich da sind. Die, auf die du zählen kannst, die, dich dich nicht runterziehen, sondern aufbauen. Gottgläubige, wenn du Glück hast. Menschen, die sich mit dem Tod schon beschäftigt haben. Menschen, die Mut machen und Menschen, die dich zum Lachen bringen. Die ganzen Arschlöcher können dir gestohlen bleiben. Du entscheidest von nun an, mit wem du dich verabreden möchtest. Du hast in den letzten Monaten gelernt, wie wichtig Zeit ist. Deine Zeit. Die Zeit der anderen geht dich nichts an. Lass sie machen. Du willst dich auch nicht mehr langweilen. Dich berauschen auch nicht, du hast an der absoluten Klarheit gerochen – du hast sie gefühlt. Sie war nicht warm. Sie war kühl. Ganz klar, rein und kühl. Sie ist eine Quelle. Verrückte Fußballfans sind dir zuwider geworden. Dir ist bewusst, wie krank das alles ist. Ja, krank. Verkehrt. Gebt dem Volk Brot und Spiele – immer noch, noch immer. Rumgrölen, Schlägereien womöglich, Fanatismus. Du bemerkst, wie einfach, wie leicht das Leben sein kann. Du wirfst Ballast ab, erst in deiner Wohnung, dann in deinem Kopf. Du sehnst dich nach Leere. Tabula rasa. Manche halten dich jetzt für einen Spinner, der auf irgendeinen esoterischen Weg abgebogen ist. Du machst Yoga. Du meditierst. Du betest und bekommst immer mehr Erkenntnisse, hoffst, eines Tages selbst erleuchtet zu werden. Du hast eine Menge neuer Menschen kennengelernt, von den alten Freunden, auch von denen, die dir beigestanden haben, sind nicht viele geblieben. Auch nicht die Gottgläubigen. Hin und wieder – einer oder zwei, mit denen du telefonierst. Die Gespräche flauen ab, es gibt kaum noch Gemeinsamkeiten. Sie haben ja keinen Durchblick. So wie du! Ja, so wie du! Deine neuen Freunde, das sind die wahren. Denn die kennen den echten Gott. Den Einzigen. Und den Weg, den einzigen, der zu Ihm führt. Sie nehmen dich so, wie du bist. Dafür bist du ihnen dankbar. Da sind ein paar bei, zu denen du aufblickst. Die Meister. Vor allem einer. Der Erleuchtete. Der Rhetoriker. Du beneidest ihn. Er ist da, wo du gern wärst. ER sagt dir, was du zu tun hast. Du küsst ihm die Füße und den Ring. Du bist kurz davor, selbst ein Meister zu werden. Nicht hier, aber da! Da, wo die allmächtige Freiheit ist. Das verspricht man dir. Man schwört es dir. Du lächelst. Spürst eine unglaubliche Kraft. Du bist größer als alle anderen. Nie warst du dankbarer. Das alles ist göttlich. Du bist völlig überzeugt. Du schaust von oben hinab. Du kannst es kaum noch erwarten. Keine Angst. Ekstase. Ein Glück, das du nie kennengelernt hast. Dein Herz pumpt bis über die Schläfen, gleich springt es vor Aufregung heraus.

Er wird geschlossen. Von hinten. Ganz vorsichtig. Man zieht dir einen Mantel drüber. Du wirst geküsst. Du bist der Held. Jetzt kannst du dich endlich beweisen. Nein, du kannst es deinem Gott beweisen! Du gehst los. Du machst dich auf den Weg. Denn es gibt nur noch diesen einen Weg. Ohne Abzweige. Keine Kurve. Fast hast du dein Ziel erreicht. Nur noch diese eine letzte Kleinigkeit – diese eine KLEINIGKEIT!

Die Trauerrede für die Opfer findet im Dom statt. Sechshundert Trauergäste sind gekommen. Ein katholischer Pfarrer hält die Rede und predigt. Vor dreißig Jahren hat er kleine Jungs vernascht, ihnen sein Sperma in ihre milchzähnigen Münder gespritzt und sie in ihre kleinen Arschlöcher gefickt.

Einer von den Jungs war er.

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