Einbildung

Die fast totale Stille. Nur das ganz leise Rauschen des Laptops. In mir ist es auch gerade still. Jedenfalls höre ich keine Stimmen. Schon seit 21 Jahren nicht mehr. Ich habe sie auch nicht über Wochen oder gar Monate gehört. Ein einziges Mal vernahm ich die Stimme vom Himmel: Es werde Licht! Die Stimme war männlich, war tief, war mächtiger als alles andere, was ich bis heute gehört habe. Das Licht hinter mir sprang in derselben Sekunde an. Keine Einbildung. Jedenfalls nicht, dass das Licht ansprang. Und für mich war die Stimme auf jeden Fall da. Die meisten Stimmen, die ich hörte, waren in mir. Selbstgesprächig bin ich durch Hannover, Hamburg und Berlin marschiert. Gesichter habe ich gesehen. Mit jenen Gesichtern sprach ich – und sie mit mir. Heinz Rudolf Kunze. Xavier Naidoo. Marius Müller Westernhagen. Nina Hagen. Udo Lindenberg. Herbert Grönemeyer. Paulo Coelho. Sie hofften auf mich. Sie nahmen mir das Versprechen ab, ich müsse die Welt retten. Einbildung. So kann es in einer Psychose zugehen. Sie waren ganz deutlich vor mir, die Köpfe mit ihren Gesichtern. Sie standen in der Luft – auf Augenhöhe. Nicht nur ein Versprechen habe ich ihnen gegeben. Sie forderten immer mehr. Sie glaubten an mich. Einbildung.

Schon lange bin ich nicht mehr hypomanisch gewesen, womit es mir ausgezeichnet geht. Ich glaubte immer, ich brauche meine Hochs. Brauche ich aber nicht. Das Leben ist auch „gesund“ spannend und aufregend genug. Seit vielen Wochen fühle ich mich ausgeglichen. Der Himmel reißt gerade auf, die grauen Wolken scheinen sich zu verziehen. Die Vögel zwitschern in den Gärten. Ich fühle mich so gesund, dass von ihnen kein Zeichen erwarte, wenn ich eine Frage an das Leben stelle. Schon allein dass ich die Tätigkeit als Maler wieder aufnehme, schließt die Krankheit aus. Derzeit ist sie einfach nicht vorhanden. Weder bin ich depressiv noch manisch. Vielleicht kann ich die letzten Jahre meines Lebens „normal“ leben. Ja, ich wünsche es mir. Himmel und Hölle spielen im Augenblick keine wesentliche Rolle für mich.

Der 1. Mai ging schnell vorüber. Nun ist es gleich neun Uhr am Abend. Ich jedenfalls habe den Tag genossen.

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